Sunshine Ranch 04 - Myriams letzte Chance
beiden unbedingt fragen, ob sie nachts noch mal draußen war, dachte Myriam.
Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe mehr. Zum Anrufen war es zu spät, aber sie konnte den beiden eine SMS schicken. Myriam zog ihr Handy wieder heraus.
Während sie tippte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Sie blickte auf und erschrak so, dass sie das Handy fast fallen gelassen hätte.
Merle hatte soeben das Haus verlassen.
Die Übergabe
Merle schaute sich prüfend um. Hatte sie Myriam etwa bemerkt? Nein, glücklicherweise blickte sie nicht in ihre Richtung.
Nun huschte Merle los. Sie drückte sich an der Häuserwand entlang, als müsse auch sie sich vor irgendjemandem verstecken.
Myriam folgte ihr in gebührendem Abstand. Immer wenn Merle kurz innehielt, an einer Straßenkreuzung oder an einer Ampel, verbarg Myriam sich rasch hinter einem Baumstamm oder tat so, als müsste sie ihren Schuh binden. Wo wollte Merle denn bloß hin? Jedenfalls wirkte es nicht gerade wie ein harmloser Abendspaziergang.
Merle wurde immer schneller. Jetzt rannte sie fast. Durch eine Unterführung, dann durch den kleinen Park hinter der Musikschule. Dahinter lag das Einkaufszentrum, das vor ein paar Monaten eröffnet worden war. Vor dem Zentrum befand sich die S-Bahnstation, wo sich die Punks und die Emos trafen. Myriam hatte Merle schon öfter dort gesehen. Aber um diese Zeit, kurz vor Mitternacht, war doch bestimmt nichts mehr los!
Während Merle über den verlassenen Platz vor dem Supermarkt rannte, blickte Myriam sich nach einem Versteck um. Der Eingang zum Parkhaus war mit einem Rolltor verschlossen, davor war ein schmaler Mauervorsprung. Von hier aus konnte sie das ganze Areal überblicken, ohne selbst gesehen zu werden.
Merle war jetzt am Fahrradständer vor der S-Bahnstation angelangt, direkt unter einer Laterne. Der Regen war stärker geworden und bildete im Schein der Lampe einen Vorhang aus Goldfäden. Merle zündete sich eine Zigarette an, dann trat sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, starrte auf das Display und schob es wieder zurück.
Myriam fröstelte. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr. Mitternacht.
Sie fuhr zusammen, als ein Motorrad an ihr vorbeidröhnte. Was für ein Lärm, der Motor war bestimmt frisiert! Der Fahrer kam vor Merle zum Stehen.
Er schob das Visier seines Helms nach oben. Zu dumm, Myriam hatte keine Chance, sein Gesicht zu erkennen. Sie sah nur, wie er sich ein paar Minuten lang mit Merle unterhielt. Dann griff er in seine Seitentasche, holte ein kleines Paket heraus und reichte es Merle.
Merle blickte sich verstohlen um. Erschrocken zog Myriam den Kopf ein, obwohl Merle sie am Tiefgarageneingang unmöglich sehen konnte. Ihr Herz schlug auf einmal so laut, dass sie das Knattern des Motorrads fast nicht mehr hörte.
Der Motorradfahrer hob grüßend die Hand, dann war er weg.
Merle ließ das Päckchen hastig in ihrer Tasche verschwinden. Danach setzte auch sie sich in Bewegung. Sie rannte aber nicht zurück, sondern verschwand in Richtung S-Bahn-Gleise in der Dunkelheit.
Myriam seufzte.
Die Nacht war noch nicht zu Ende.
Myriam folgte Merle in die Shell-Tankstelle an der Duisburger Straße. Sie kauerte sich in den Schatten eines Briefkastens und wartete, bis Merle wieder herauskam, eine Dose Bier in der Hand – der Tankwart war offensichtlich nicht so pingelig wie der Büdchenbetreiber bei der Sunshine Ranch.
Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Merle setzte sich auf eine nasse Parkbank, öffnete die Flasche mit ihrem Feuerzeug und begann zu trinken. Ob sie wieder auf jemanden wartete?
Nein, nach einer Weile rülpste sie laut, ließ die leere Dose auf der Bank liegen und stand auf. Zu Myriams Erleichterung ging sie endlich wieder zurück. Kurz bevor sie ihr Haus erreicht hatte, bog sie allerdings rechts ab und verschwand in einer Schrebergartensiedlung. Myriams Herz schlug schneller. Was wollte Merle denn hier, um diese Zeit? Vielleicht hielt sie Charlie ja in einem der Gärten versteckt?
Sie beobachtete, wie Merle ein Gartentörchen öffnete und über einen Kiesweg zu einer kleinen Laube ging. Dort machte sie sich an der Regenrinne zu schaffen. Ob sie den Schlüssel zur Hütte da herausfischte? Kein sehr originelles Versteck, fand Myriam. Sie trat einen Schritt vor und reckte den Kopf.
Wo war Merle denn plötzlich? Myriam konnte sie nicht mehr sehen.
Ach du Schreck, sie kam direkt auf sie zu! Im letzten Moment
Weitere Kostenlose Bücher