Super-Brain - angewandte Neurowissenschaften gegen Alzheimer, Depression, Übergewicht und Angst
diese Fähigkeit hat– weil es sie nicht hat.
Tallis behauptet, es sei unmöglich, das Gehirn aufzufordern, Erinnerung zu » speichern « . Chemische und elektrische Reaktionen finden nur in der Gegenwart statt. Die Signalübertragung an einer Synapse erfolgt jetzt. Von dem, was vor einer Minute war, ist nichts mehr da, geschweige denn von dem, was noch länger zurückliegt. Nach erfolgter Signalübertragung kehren jene chemischen Signalgeber, die den Weg über die Synapse zurücklegen, wieder in den Normalzustand zurück. Durch einen als Langzeit-Potenzierung oder LTP (von engl. long-term potentation ) bezeichneten Prozess kann das Gehirn die Signalübertragung über bestimmte Synapsen verstärken, andere Synapsen dagegen schwächen. Auf diesem Weg werden bestimmte Erinnerungen » einprogrammiert « , andere hingegen nicht. Hier stellt sich die Frage, ob das Gehirn sich zu erinnern vermag, was es in der Vergangenheit getan hat, oder ob vielmehr das Bewusstsein diese Aufgabe übernimmt. Salz kann sich nur in dem Moment auflösen, in dem Sie es in ein Glas Wasser rühren. Es kann keine Erinnerung daran speichern, dass es sich 1989 in Wasser aufgelöst hat.
Tallis weist darauf hin, dass es noch grundlegendere Fragen gibt, etwa die Frage nach dem Selbst: Man hat noch keinen Bereich im Gehirn gefunden, dem sich das Ich zuordnen ließe, diejenige Person, die eine Erfahrung macht. Sie wissen einfach, dass Sie existieren. In Ihrem Gehirn leuchtet es nirgendwo auf und es werden keine Kalorien aufgewendet, um Ihr Ich-Empfinden aufrechtzuerhalten. So gesehen könnte, falls das Selbst wissenschaftlich nachgewiesen werden müsste, faktisch ein Skeptiker die mit bildgebenden Verfahren hergestellten Darstellungen des Gehirns eingehend untersuchen und » beweisen « , dass es, all die bildgebenden Verfahren hin oder her, kein Ich gibt– mal abgesehen davon, dass ein solches offenkundig vorhanden ist.
Tatsächlich steuert Ich das ganze Gehirn. Es erschafft Bilder von der Welt, ohne selbst in Erscheinung zu treten, ganz wie ein Maler Bilder malt, auf denen er nicht selbst zu sehen ist. Zu sagen, das Gehirn erschaffe das Selbst, gleicht der Aussage, dass Bilder ihren Maler kreieren. So etwas lässt sich einfach nicht aufrechterhalten.
Das nächste riesengroße Fragezeichen betrifft den Anstoß zum Handeln. Falls das Gehirn, wie es der Auffassung der Materialisten entspricht (ein berühmter Ausspruch eines Experten für künstliche Intelligenz bezeichnet das Gehirn als » Fleisch gewordenen Computer « ), eine biologische Maschine ist, wie kann die Maschine dann mit neuen, unerwarteten Entscheidungen aufwarten? Selbst der leistungsfähigste Computer der Welt sagt nicht: » Ich will jetzt mal ’nen Tag freihaben. « Oder: » Lass uns über was anderes reden. « Ihm sind nur diejenigen Prozesse möglich, für die er programmiert worden ist.
Wie also kann bei einer aus Neuronen bestehenden Maschine ein Sinneswandel eintreten? Wie kann sie eine spontane Regung haben, sich einem wohlangepassten Verhalten verweigern und all die anderen schlauen Sachen tun, zu denen wir nach Belieben imstande sind? Sie kann es nicht.
Das führt uns zum Thema Willensfreiheit, die ein strikter Determinismus in Abrede stellen muss. Wir alle sind in der Lage, in einem China-Restaurant ganz nach Wunsch eine Speise aus dem einen Teil der Speisekarte mit einer Speise aus einem anderen Teil der Karte zu kombinieren. Falls jede Reaktion im Gehirn durch die Gesetze der Chemie und der Physik vorherbestimmt ist– wie viele Gehirnforscher beharrlich behaupten–, dann muss es sich jedoch zwangsläufig Ihrer Kontrolle entziehen, welches Essen Sie heute in einer Woche oder in zehn Jahren bestellen werden. Wie absurd. Sind wir nun Opfer physikalischer Gesetze oder Opfer unserer eigenen, blindlings in die Irre gehenden Thesen?
Tallis’ Überlegungen sind verheerend für die » Primat des Gehirns « -Position. Allerdings konnte man leicht behaupten, hierbei handele es sich ja nicht um Wissenschaft, und sie als Philosophie abtun. (Ein gängiger Spruch, der gern aus der Schublade gezogen wird, wenn das Denken eines Wissenschaftlers über die akzeptierten Grenzen hinausgeht, lautet: » Halt den Mund und rechne! « ) Die Neurowissenschaft kann vor sich hin werkeln, ohne auf derartige Herausforderungen einzugehen, und sich damit rechtfertigen, irgendwann in der Zukunft werde schon jedes Rätsels Lösung gefunden werden. In der Tat wird man ganz bestimmt noch viele
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