Super-Brain - angewandte Neurowissenschaften gegen Alzheimer, Depression, Übergewicht und Angst
die in der Luft lag, war geradezu mit Händen zu greifen. Zu diesem Zeitpunkt hielt der Ayatollah Khomeini im Iran gerade 52 amerikanische Geiseln fest. Gruppen von Jugendlichen skandierten gegen den Iran gerichtete Beschimpfungen und warfen Bierflaschen durch die Gegend. Rudy zog es vor, sich von seinen Uni-Kumpels abzusetzen, und ließ sich, gegen das Geländer der U-Bahnstation gelehnt, auf dem Bürgersteig nieder, denn er spürte, dass angesichts der Aggression, die ihm von allen Seiten her entgegenschlug, seine Angst auf einen Gipfel zusteuerte.
In solchen persönlichen Krisenmomenten, gerade wenn die instinktiven Hirnfunktionen allem Anschein nach die Oberhand gewonnen haben, kann eine tief greifende Veränderung einsetzen. Soldaten in der Schlacht werden, während ringsum überall Geschosse und Granaten explodieren, womöglich unversehens einen Zustand innerer Ruhe und Stille erleben. Die elementaren Regungen von Angst und Verlangen, das wurde Rudy in diesem Augenblick auf dem Times Square klar, bildeten den Ausgangspunkt all seiner Angst und Besorgnis. Die Angst ließ ihn daran zweifeln, ob er sicher war. Und das Verlangen hatte zur Folge, dass sich in ihm immer wieder ein Appetit regte, der gestillt werden wollte, selbst wenn die Umstände gar nicht danach waren.
Von der nahtlos integrierten Vernetzung des Gehirns wusste Rudy damals zwar noch nichts (diese Entdeckung sollte noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen), er konnte jedoch innerlich spüren, dass es sich so verhielt. Angst und Verlangen stehen einander keineswegs fremd gegenüber. Im Gegenteil, sie sind miteinander verknüpft. Die Angst nährt das Verlangen nach Aktivitäten, die ebendiese Angst abmildern. Und umgekehrt bringt das Begehren die Angst mit sich, dass Sie nicht bekommen können oder womöglich nicht bekommen sollten, wonach Ihr Appetit verlangt.
Wir wenden uns an Wissenschaftler und an Dichter, damit sie uns die Tragweite der durch die instinktive Phase des Gehirns hervorgerufenen Konflikte bestätigen. Sigmund Freud hat von der Macht des unbewussten Sexual- und Aggressionstriebs gesprochen. Aufgrund ihrer Primitivität bezeichnete er diese anonymen Kräfte als das Es. Und das Es übt große Macht aus. Freuds Leitsatz für die Heilung seiner Patienten lautete: » Wo Es ist, soll Ich sein. « Andauernd wird die Welt unfreiwillig Zeuge, welch zerstörerische Kraft unseren Urtrieben innewohnt. Angst und Aggression warten nur darauf, die Tore der Vernunft zu stürmen.
Als Shakespeare sich selbstkritisch vor Augen führte, welch ein Schwerenöter in ihm steckte, bezeichnete er die Lust als » in schändlicher Verschwendung versprühten Geist « . Das folgende Sonett gibt ein vorzügliches Lehrstück in Sachen Gehirnanatomie ab, da es den Konflikt zwischen triebhafter Regung und Vernunft überaus genau beschreibt.
Den Geist versprühn in schändlicher Verschwendung
ist Lust im Tun; nur Lust, bis man es tat;
ist Meineid, Mord, blutschändliche Verblendung,
Ausschweifung, Wildheit, Grausamkeit, Verrat.
Schwerlich könnte man primitive Triebe und das Verhalten von Menschen, bei denen Sex alles andere unter sich begräbt, präziser in Worte fassen. Würden zwei Widder, die in der Brunstzeit mit den Hörnern aufeinander losgehen, eine poetische Ader entwickeln und Verse zu schreiben beginnen, dann würden sie ihre zügellosen Triebe vermutlich auf diese Weise charakterisieren. Retrospektiv hat Shakespeare, der Mensch, sie jedoch mit zerknirschtem Blick betrachtet, jene Lust,
die, kaum genossen, ausspeien möchte jeder,
die blindlings man erjagt, die, kaum am Ziel,
man blindlings hasst wie den verschluckten Köder.
Er vergleicht sich mit einem Tier, das sich durch einen Köder in die Falle locken ließ. Aus der Befriedigung der Lust hat sich eine neue Perspektive ergeben, diejenige des Selbstvorwurfs. (Bei Shakespeare haben wir keinen Beleg für eine Geliebte. Aber er war ein verheirateter Mann, der Vater einer Tochter sowie neugeborener Zwillinge, als er 1585 seine Familie in Stratford zurückließ, um in London sein Glück zu versuchen.)
Wer hat ihm die Falle gestellt? Den Frauen macht Shakespeare keinen Vorwurf. Unsere Natur, so erklärt er, stellt uns die Falle, auf dass wir wie von Sinnen sind:
Rasend im Suchen, rasend, wer sie fand, …
erst Glücksverheißung, dann nur Traumgestalt.
Nun hat er den Schritt von den instinktiven Hirnfunktionen zum– entwicklungsgeschichtlich als Nächstes entstandenen– » emotionalen
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