Superhirn Sammelband
Morant hatte Mühe, ihn zu halten und zu beschwichtigen. Inzwischen rief Edi entsetzt: »Was ist das? Der Zug ist weg! Verschwunden! Er kam nicht über die Brücke! Er ist – er ist wie vom Erdboden verschluckt!«
Die drei Männer lachten. Der ältere Werftarbeiter sagte gemütlich: »Merkst auch alles, Edi. Der SILBERBLITZ fährt nicht über die Brücke. Wär auch ein Wunder. Das ist 'ne alte Hebebrücke, und der Übergang ist hoch oben an den Pfeilern arretiert. Siehst du den Schatten?«
»Ach ja«, entgegnete Edi ein wenig beschämt. »Hätte ich mir denken können. Wunderte mich vorhin schon, was das Ding da oben soll.«
»Schrott, der auf Demontage wartet«, erläuterte der jüngere Bootsbauer. »Früher ging da die Austernbahn von Brossac-Baie nach Royan. Die Brücke wurde per Dampfkraft runtergelassen und immer gleich wieder hochgeschoben, damit die Kanalschiffe passieren konnten. Jetzt werden die Austern in Lkws transportiert. Die Bahntrasse nach Royan ist wegen der Hotels und Campingplätze abgerissen worden. Der SILBERBLITZ fährt unter dem Kanal durch und macht dann einen langen Schleif nach Buronne!«
Edi drehte sich unwillkürlich nach Südwesten. »Aber wo ist der Zug geblieben? Er taucht ja nirgends wieder auf!«
»Er fährt unterirdisch weiter«, murrte der Nachtpförtner, den das genauso zu irritieren schien wie seinen Hund. »Er saust durch einen langen Tunnel aus vergrabenen Fertigteilen. Fast wie durch 'ne Pipeline.«
»Dann kann ich ja lange glotzen«, sagte Edi achselzuckend. »Und warum benimmt sich der Köter so komisch? Der müßte sich doch an den Zug gewöhnt haben.«
»Der Boden vibriert unmerklich«, versuchte Morant zu erklären. »Wir spüren das nicht. Aber der Hund kriegt das in die Pfoten.« Er fügte hinzu: »Horcht! Die Schafe dahinten, die haben sich noch immer nicht beruhigt!«
Man hörte vielstimmiges, leises Blöken von irgendwoher aus der Nacht.
»Die Vögel aus den Hecken und Büschen fliegen jedesmal hoch, lange bevor die Lokscheinwerfer in Sicht sind«, sagte der ältere Arbeiter, »wie bei 'nem fernen Erdbeben, das unsereiner nicht wahrnimmt. So – aber nun ran! Meiner Mutter Sohn will Feierabend machen, bevor die Sonne aufgeht!«
Der Nachtpförtner schnalzte mit der Zunge und stapfte weiter, nachdem er Sultans Hals beruhigend getätschelt hatte. »Den SILBERBLITZ wirst du noch oft genug erleben, Edi!« rief er über die Schulter zurück.
»Na klar«, murmelten die Bootsbauer, die bereits wieder über ihrer Arbeit waren. Keiner der vier Männer ahnte, daß er den SILBERBLITZ zum letzten, zum allerletzten Mal gesehen hatte … Knapp zehn Stunden später trafen fünf Jugendliche aus einer anderen Richtung und in einem ganz anderen Zug. nämlich dem Pariser »Atlantik-Expreß« der Staatsbahn, in Buronne ein: die Geschwister Henri, Tatjana – genannt Tati -, ihr jüngerer Bruder Micha und Henris Freunde Gérard und Prosper. Ihr Endziel war das Brossacer Forschungsinstitut, dessen Werkzug SILBERBLITZ um ein Uhr in der Nacht gestartet war. Doch davon wußten die Ankömmlinge nichts. Obwohl sie schon öfter Feriengäste des Instituts am Cap Felmy gewesen waren, hatten sie den SILBERBLITZ nie kennengelernt. Der Werkbahnbetrieb lief erst seit Februar des Jahres.
»Leg Loulou das Halsband um«, ermahnte Tati den jüngeren Bruder. Der schwarze Zwergpudel war der unzertrennliche Begleiter der Gruppe. Noch hatte der Expreß den Bahnhof nicht erreicht, aber alle standen schon mit ihren Campingbeuteln vor der Waggontür. Es war ein sonniger Vormittag, und sie brannten darauf, ins Freie zu gelangen.
»Gleich raus, zum Packwagen, die Fahrräder geschnappt – und ab nach Brossac«, drängte der zapplige Prosper.
»Ich wollte, ich sähe einen Fußballplatz«, seufzte Gérard, wegen seines Hobbys und seines Rundschädels oft als »Fußballkopf« gehänselt.
»Surfen, segeln, tauchen, fischen, faulenzen«, schwärmte Micha. »Tati melden wir zum SommerTanzkurs an. Und – und …«
»Sachte, sachte«, unterbrach der besonnene Henri. »Wird sich alles finden. Erst müssen wir im Bahnhof sein.«
Doch kurz vor der Einfahrt auf Gleis l hielt der Atlantik-Expreß.
»W-w-was ist denn nur los?« rief Prosper.
Tati drückte ihre Nase an ein Fenster, »Ich dachte. Buronne wäre ein .aufstrebendes Seebad'. So steht's im Prospekt. Dabei besteht die Gegend nur aus Schienen.«
»Jede Menge«, bestätigte Gérard. »Haupt-und Nebengleise, Schmalspur, Rangieranlagen… Hier hat 'n
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