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Supernova

Supernova

Titel: Supernova Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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werden sich in einem abgesperrten Raum
innerhalb eines Atombunkers aufhalten, der über eine in sich
geschlossene Belüftungsanlage verfügt und oben von einer
halben Division Sturmsoldaten bewacht wird. Oder, falls Ihnen das
lieber ist, sind Sie Gast an Bord einer Diplomatenyacht der Vereinten
Nationen und befinden sich auf dem Hoheitsgebiet der Erde. Einige
Kreuzer der Marine Neu-Dresdens werden ein Auge darauf halten. Die
Entscheidung liegt bei Ihnen. Auch die Neu-Dresdner möchten Ihr
Leben schützen, solange die Raketen in ihre Richtung weisen. Ich
selbst werde mich so weit aus dem Fenster lehnen, dass jemand die
Gelegenheit wittern wird, mich zu erledigen – und zwar nicht
durch eine Waffe mit Zielfernrohr, sondern aus allernächster
Nähe. Nur so können wir die Leute schnappen.«
    Als die Botschafterin Rachel ansah, lag etwas wie Ehrfurcht in
ihrem Blick – oder was sonst als angemessene Reaktion auf die
Tatsache gelten mochte, dass sie es hier mit einer völlig
durchgeknallten Kamikaze-Kämpferin zu tun hatte. »Was
zahlen die Ihnen für diesen Job? Ich hab ja schon viele
wahnwitzige Dinge in meinem Leben gehört, aber das ist ja wohl
das Verrückteste…« Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich werde nicht dafür bezahlt, Geld hat nichts damit zu
tun«, murmelte Rachel. Ich tu’s aus
Verantwortungsbewusstsein. Falls ich das hier vermassele, sterben
fast eine Milliarde Menschen. Sie blickte auf den Platz.
»Ich war schon einmal hier, vor etwa zehn Jahren. Haben Sie sich
je Zeit für einen Museumsbummel genommen?«
    »Oh, ich bin schon im Reichsfriedensmusem und im Justizpalast
des Volkes gewesen, hab dort alles gesehen.« Sie berührte
einen breiten Siegelring: Ein Saphir blinkte auf. »Diese Leute
haben eine äußerst bemerkenswerte Geschichte – mehr
Geschichte, als eine Welt haben sollte, wenn Sie mich fragen.«
Sie sah Rachel nachdenklich an. »Wussten Sie, dass sie hier mehr
Weltkriege hatten als auf der Alten Erde?«
    »Ich hab so was läuten hören«, erwiderte
Rachel trocken. Vor vielen Jahren, auf ihrer ersten Reise nach
Dresden, hatte sie sich dreitausend Seiten Lokalgeschichte
einverleibt. »Wie sind die Museen heutzutage?«
    »Groß. Oh, in diesem Monat läuft hier eine
bedeutende Ausstellung, in der die Totenkleider der verschiedenen
Regionen gezeigt werden. Es ist eine der Sonderausstellungen, die es
nur alle zehn Jahre gibt.« Sie verlor sich immer mehr in eigenen
Gedanken und fuhr nachdenklich fort: »Eine ganze Galerie befasst
sich dort mit der Folge der Eroberungen, durch die das Ostreich seine
Feinde im Süden besiegen und die restlichen unabhängigen
Provinzen – sie waren industrialisiert und besaßen
Füllhörner – in den Würgegriff nehmen konnten.
Faszinierend.«
    »Aber über die Massengräber gibt es dort nichts,
wie ich annehme«, bemerkte Rachel.
    »Nein.« Morrow schüttelte den Kopf. »Auch
nichts über die leeren Flecken auf der Karte
Nordtranssylvaniens.«
    »Aha.« Rachel nickte. »Die reden noch immer nicht
darüber?«
    »Je länger das Leben währt, desto größer
der Gedächtnisverlust. Es dauert länger, Verbrechen
zuzugeben, wenn die Täter noch eine aktive Rolle in der
Regierung spielen.« Morrow leerte ihr Glas und wandte den Blick
ab. »Warum waren Sie dort?«, murmelte sie.
    »Mit dem Ausschuss für Kriegsverbrechen. Ich möchte
lieber nicht darüber reden, vielen Dank auch.« Rachel trank
aus. »Ich kehre jetzt wohl besser zur Botschaft zurück, um
mit den Vorbereitungen anzufangen. – Es tut mir Leid«,
sagte sie, als sie Morrows Gesichtsausdruck bemerkte, »aber wir
müssen so schnell wie möglich loslegen. Es wird einige Zeit
dauern, die Dinge zu arrangieren. Ich glaube, den Museumsbummel lasse
ich besser ausfallen.«
    Einen Augenblick lang fühlte sie sich schrecklich alt: Sie
spürte jede Minute ihres langen Lebens, eine Zeitspanne, die
kein Mensch ertragen konnte, wenn er nicht lernte, von einem
Augenblick bis zum nächsten zu leben und gar nicht darauf zu
achten. Sie hatte sich angewöhnt, ihr Leben alle dreißig
Jahre neu zu erfinden, wobei sie sich selbst dazu zwang, sich neue
Lebensweisen, Einstellungen und Freunde zuzulegen. Dennoch war ihr
ein innerer Kern unversehrter Identität geblieben: ein Funke
glühender Wut auf Leute, die so etwas fertig brachten, wie es im
Norden Transsylvaniens vor nicht einmal hundert Jahren geschehen war.
Es gehörte zu den Eigenarten, die Rachel in letzter Zeit
entwickelt hatte, dass sie sich in Museen äußerst

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