Suppenmord: Kommissar Hölderling kocht (German Edition)
hörte er Viktors Stimme, als riefe der ihn aus dem oberen Stockwerk. «Die Suppe ist da.»
Hölderling lächelte, blickte starr auf seinen Teller, tastete nach dem Besteck, nahm irgendetwas und versenkte es in der Suppe. Das Tischgespräch verdünnte sich auf dem Weg von seinen Ohren zum Hirn zu einem hohen Pfeifton. Hölderling hatte das Gefühl, sein Schädel sei in Watte gepackt, und hinter der Watte befand sich nichts, worüber es sich lohnte nachzudenken. Ihm war, als hätte das Strahlen in Annelies’ grünen Augen alles Nennenswerte aus ihm herausgefunkelt. Solange das Funkeln bei ihm bleiben würde, so lange bräuchte er keinen Blick mehr auf die Welt zu werfen. Es war, als hätte Hölderling sich aufgegeben, hingegeben an diesen Augenblick, den er einerseits herbeigesehnt und gleichzeitig gefürchtet hatte. Was hatte er sich alles ausgemalt, wie es sein würde, wenn er Annelies außerhalb ihres Wirkungskreises, dem Obduktionssaal, sehen würde. Und nichts hatte ihn darauf vorbereitet, denn bislang waren ihre kurzen Begegnungen rein beruflich und somit auf sicherem Terrain verortet gewesen. Es war nicht einfach, aber Hölderling hatte Haltung bewiesen und die wenigen Situationen gemeistert. Stotterfrei, geradezu wie ein erwachsener, abgeklärter Mann. Danach allerdings hatte es ihn immer für mehrere Tage auf die Couch geworfen, und Werner Zabel hatte Frau Klingel samt ihrem Kirschstreusel ausgesandt, um ihm beizustehen und ihn aufzupäppeln. Aber nun war die Klingel mit ihrem Kuchen weit weg; und wo es nicht mehr um Todeszeitpunkte, Schussverletzungen, DNA-Spuren, Kaliber und Fingerabdrücke ging, waren ihm die Sicherungen durchgebrannt, und er wünschte sich, es würde nie mehr anders sein bis in alle Ewigkeit.
Und so hörte er auch nicht die Stimme von Annelies, die versuchte, zu ihm durchzudringen. «Gregor», sagte sie. «Gregor, du hast eine Gabel in der Hand.»
Und er hörte auch nicht, wie Viktor seinem Titel «Freund» gerecht werden wollte und zu Annelies sagte: «Er hört dich nicht. Es hat ihn gerissen. Kannst du das noch mit ansehen, Annelies? Was hast du nur aus diesem Mann gemacht? Einen Zombie. Tu was, mach ihn wach, hol ihn ins Leben zurück. Er geht ein wie eine Primel. Oder freust du dich schon, ihn auf dem Seziertisch zu haben? Ist es das, was du willst? Sein Herz herausreißen, es wiegen, vierteilen und in Formalin einlegen, du grausames Wesen, das du bist.»
Das Krähenfüßchen mischte sich ein und sagte über Gregors Teller hinweg: «Für einen Scheidungsanwalt bist du aber ganz schön verquast-romantisch, Viktor. Oder sieht dein Masterplan vor, die beiden wieder zusammenzubringen, um dann noch eine Trennung durchzuziehen? Hm?»
Gregor gabelte stoisch seine Suppe, und das Krähenfüßchen musste zurückweichen, wollte sie ihr wild gemustertes Abendkleid, das verdächtig nach Glööckler für Mollige aus einem Shoppingkanal aussah, nicht in Gefahr bringen.
Annelies hob ihren Suppenlöffel, zielte damit über den Tisch hinweg auf Viktors Brust und wollte eben zu einer Antwort ansetzen, die Gregor auch nicht gehört hätte, als es am anderen Ende des Tisches zu einem Tumult kam. Gläser zersprangen krachend auf dem Fußboden, jemand schrie auf, etwas, das so klang wie: «Also, Marielle, jetzt reiß dich mal zusammen.» Conrad Faust bimmelte mit der Tischglocke, die ihm im nächsten Moment von Lobenthal aus der Hand gerissen wurde. Die Klassenkameraden Müller und Witsch, vom Architekturbüro Müller & Witsch, sprangen auf, schauten verwirrt drein und ließen sich gleich wieder auf ihre Stühle fallen. Wie eine La-Ola-Welle erreichte die Verwirrung dann auch das Krähenfüßchen, das rief: «Was ist denn los da vorne? Eintrag ins Klassenbuch!»
Aber niemand lachte. Petra Spieß schob ihren Stuhl nach hinten und hinkte nach vorn, zur Quelle der Irritation. Ihre orthopädischen Schuhe quietschten auf dem blankpolierten Parkett.
Inzwischen hatten sich auch Annelies und Viktor erhoben. Annelies nestelte ihre Brille aus dem Abendtäschchen und beobachtete die Szenerie.
«Das ist interessant», sagte sie und versetzte Gregor über den Tisch hinweg einen leichten Klaps auf den Schädel.
«Weggetreten, sag ich doch», sagte Viktor. «Und Marielle … aber irgendwie … sieht das nicht gut aus.»
«Schlimmer als das», antwortete Annelies, und ganz undamenhaft fiel sie auf die Knie und robbte unter dem Tisch hindurch, kam auf der anderen Seite wieder heraus und stellte sich neben
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