Surf
Fensterscheiben holten wir unsere Bretter heraus, und ich packte meinen Rucksack mit Surfanzug, Handtuch, Wachs, Sonnenöl, Proteinriegel und Möhrensaft. Inzwischen standen auf dem Schotterparkplatz ein paar Autos, darunter ein japanischer Pick-up, ein alter El Camino und ein Buick. Gerade als die Sonne über dem Horizont hervorlugte und Licht die Dunkelheit durchströmte, brachen wir zu jenem Ort auf, an dem ich schließlich einen großen Teil des folgenden Jahres verbringen sollte. Auf einem Feldweg, der von Hemlocktannen gesäumt war – alle auf eine schwarze, teerige Art welk, sodass sie aussahen wie Agent-Orange-Opfer –, stapften wir durchs Unkraut und sammelten lauter Kletten an unseren Hosenbeinen. Die ganze Gegend war wild und überwuchert, hier und da lag etwas Müll herum, aber überwiegend war es ein herrliches Fleckchen Erde, dem nur niemand einen Namen gegeben hatte. Rechts sah man Reihen von Rosenkohl unter den Wasserfontänen einer Sprinkleranlage; links führte ein hübsches kleines Bachbett durch Schilfrohr zu einer Lagune, die vor der Brandung durch eine Sandbank geschützt wurde. In einer flachen Stelle des Brackwassers stand ein Reiher, zierlich und verletzlich, schön wie eine fragile Filmdiva mit einer weißen Federboa. Weiden säumten die Nord-Süd-Eisenbahntrasse, ein Frosch quakte in dem stehenden, von Algen bedeckten Gewässer. Gegen Eisenbahngleise ist übrigens nichts einzuwenden – vor hundert Jahren waren sie der Vorbote für die moderne Industriegesellschaft im Paradies Amerika, jetzt aber sahen sie aus wie ein vertrauter Gartenweg. Und kleine gelbe Blüten, vermutlich Kamille, bedeckten den Mittelstreifen des Weges (ich pflückte ein paar, um später Tee daraus zu machen, stellte beim Aufbrühen und Abseihen allerdings fest, dass es sich um eine Art falscher Kamille handelte). Es war toll, den verdörrten, weizengelben kalifornischen Sommer zu riechen, das Meer voller Seetang, während Richtung Süden, jenseits der Monterey Bay, die Berge hinter dem pseudo-bohemehaften, halb vom Nebel verborgenen Carmel aufragten.
Tatsächlich war die Kombination von Lagune und Sandbank, felsiger Landspitze, Unterwasserriff und Bach ein wunderschöner Küstenabschnitt, ein exakter Mikrokosmos dessen, was die gesamte Küste Nordkaliforniens auszeichnet – und deshalb natürlich mehr als genug Welt für mich. Rechts beschrieb der Point einen natürlichen Bogen. In der Hälfte der Bucht, die davon geschützt wurde, hoben sich vier kleine Wellen durch ein Kelpbett, während drei Jungs, die Kapuzen ihrer Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen, im Morgengrauen dastanden und ihre Surfanzüge ausschüttelten – sie hingen einfach im Land Gottes herum, als wäre es ihr Hinterhof. Genau in diesem Augenblick entschied ich, auch ich wollte von diesem Ort leicht gelangweilt sein, wollte so viel von seiner Schönheit in mir aufnehmen, bis ich dieses leise Bedauern nicht mehr empfand, das einen oft überkommt, wenn man etwas Herrliches sieht, und zwar ein Bedauern darüber, dass man sein Leben wirklich ändern sollte, um solche Orte und Augenblicke darin einzuschließen, aber genau weiß, dass man es doch nicht tut. Etwa so, wie wenn man etwas findet, von dem man gar nicht wusste, dass man danach gesucht hat: Diese Bucht fegte alle Gedanken an das Wellenreiten beiseite. Und so stand ich völlig hingerissen neben ein paar niedrigen, breiten, typisch windschiefen Zypressen auf dem matschigen Trampelpfad, der sich durch eine kleine, mit Brombeersträuchern zugewachsene Schlucht zum Wasser hinunterschlängelte.
«Oooh», sagte Skinny und betrachtete die kleine, menschenleere Brandung, « es läuft leer .»
«Hmm?»
«Das Riff, Dummkopf. War bloß ein Scherz, aber das merkst du nicht mal.» Wir kletterten den rutschigen Weg voller zertretener Fettpflanzen hinunter, während der graue Pazifik allmählich Blautöne annahm und Gischtbögen am Kliff emporschossen. Unsere Anzüge waren kalt, klamm, nass und sandig, nachdem wir sie drei Tage benutzt hatten. Obwohl sein Trailer völlig heruntergekommen war, hatte Skinny den Tick, dass an seinem Surfanzug kein Körnchen Sand, kein Grashalm kleben durfte. Er stand auf einer Plastikfolie (damit die Füße sauber blieben), ohne Hosen, mit einem Handtuch um die Hüften, und schüttelte und bürstete an dem Neopren ohne die geringste Hast. Als er sein Programm endlich durchgezogen hatte, gingen wir ins Wasser, und sofort erwischte mich eine Welle frontal. Ich tauchte auf mit
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