Surf
vertraut. Überdies steht der Inselbewohner beim kolonialen Kapitalismus in der Pflicht: «In der Tat», erklärt Bingham, «erforderte der Kauf ausländischer Schiffe, dass man dem Sammeln und Liefern von 450 000 Pfund Sandelholz Beachtung schenkte, was diejenigen, die auf das Holz warteten, natürlich zu der Annahme veranlasste, dass diese Tätigkeit vorübergehend an Stelle der Vergnügungen treten würde.» Natürlich – jetzt, wo der Südseeinsulaner Liefertermine einhalten musste, hatte er keine Zeit mehr. Die Schule, auch eine Ablenkung für jeden passionierten Surfer, leistete ebenfalls ihren Beitrag: «Der heidnische Sport der Nation verschwand fast völlig», so Bingham, und zwar mit dem Aufkommen «des elementaren Unterrichts in Lesen, Schreiben, Moral, Religion, Arithmetik, Geographie, geistlicher Musik und christlicher Geschichte.» Man wundert sich, was genau am Surfen «heidnisch» sein soll, aber ja, gewiss hat dieser Sport etwas Unchristliches, Nichtlineares, sogar Nichtwestliches an sich. Liegt es vielleicht daran, dass es kein Ziel gibt? Keinen bezifferbaren Erfolg? Und man muss auch die Hybris von Binghams kausaler Kette bewundern – als wolle man das Massaker an den Lakota-Indianern mit der zeitgleich stattfindenden Gründung der ersten professionellen Baseball-Liga in den USA verknüpfen.
Ein paar Tage nach der Hochzeit kam Orin, der Schwimmer, aus San Francisco herunter. Er wollte mit mir surfen. Nachdem er in den letzten Jahren ein Vermögen gemacht hatte, war er zurück an die Westküste gezogen, auf der Suche nach seinen Wurzeln und nach Authentizität – er wollte entweder das Surfen oder eine Kampfsportart erlernen. Ein enger gemeinsamer Freund war im vorigen Herbst an einem Herzinfarkt gestorben, und Orin hatte sein gigantisches Gehalt und einen Platz in einem MBA-Programm aufgegeben, um die gemeinnützige Organisation des Freundes zu übernehmen, wobei er Praktiken der Unternehmensfinanzierung dazu nutzte, Menschen tatsächlich zu helfen. Dass er die Fahrt hierher gemacht hatte, war eine Geste der Freundschaft: Ausgiebig schwärmte er von der Ruhe und Gelassenheit meines Lebens und davon, dass ich einfach nur schrieb und surfte. Normalerweise ist mir gar nicht wohl, wenn jemand ein Leben preist, das er für sich selbst nicht in Betracht ziehen würde – wichtige Entscheidungen im Leben gründen auf Wertvorstellungen, die durch Geschwafel manchmal verdunkelt werden können –, aber Orin war so höflich und humorvoll und begeisterte sich für die Lebensweise anderer auf eine Art, dass man sich mit der eigenen wohl fühlte. Zudem vermied er sorgfältig alle unseligen Vergleiche mit seinem eigenen großen Erfolg.
Gemeinsam gingen wir den Weg zum Point hinunter, der nach den schweren Regenfällen schlammig und glitschig war. Die verbliebenen Kohlstrünke wirkten in ihren dunklen salbeigrünen Furchen wie Miniwälder. Das abgeerntete Feld lag jetzt schwarz und nass unter dem bewölkten Himmel. Die Hemlocktannen am Feldweg waren durch den Regen verschimmelt, die ersten neuen Grashalme und Disteltriebe zeigten sich, ein optimistisches kleines chi -Fest der Sonne nach dem Regen. Nachdem wir den ausgewaschenen Weg hinabgerutscht waren, zogen wir uns auf dem Felsen unter der Klippe um. Bald schon waren wir von großen, vom Sturm noch unordentlichen Wellen umgeben. Im Normalfall hält es ein Anfänger zwischen 30 und 40 Minuten in kaltem Wasser aus. Orin aber war schon auf der Highschool und an der Uni ein so guter Schwimmer gewesen, dass er mehrere Stunden mit mir im Wasser bleiben konnte, ohne sich zu erschöpfen – er lächelte und freute sich die ganze Zeit, obwohl er von einer Welle nach der anderen grob umgestoßen wurde, und war schier aus dem Häuschen, wenn es ihm tatsächlich gelang, auf einer bis zum Strand zu surfen. Vince paddelte allein nach draußen, gerade als Orin und ich übereinkamen, aus dem Wasser zu gehen. Freudlos lächelnd grüßte er, was seinen Ärger über mich verriet. Ich hatte einen völlig ungeübten Außenseiter in seinen Garten mitgebracht; und so ungesellig sein Verhalten auch sein mochte, ich sollte ihn bald verstehen. Denn sobald ein Surfspot bekannt wird, gerät er nie wieder in Vergessenheit. Eine einzige unachtsame Bemerkung in einem abendlichen Gespräch kann für die restliche Saison den Unterschied zwischen einem schönen Morgen unter Freunden und einem Kampf auf engstem Raum in der Horde bedeuten.
Dennoch taute Vince Orin gegenüber rasch auf,
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