Surf
Im Gegensatz dazu war der Ahorn hier nur ein zarter Hinweis auf ein kleines Unglück, so wie man vielleicht inmitten der kühlen, sonnigen Klarheit eines mediterranen Herbstes allen Verlust und Wechsel vergisst.
Von der Atlantic Street scholl ein krächzendes, gereiztes «Caw!» herüber: «Caw!», mit lauter, kehliger Stimme. Zwei große Reiher liefen direkt vor mein weit offenes Fenster. Was für ein Geschenk! Ihre fast rechteckigen Flügel wirkten derart überdimensional im Vergleich zu ihren schlanken Hälsen und den Leibern, die sich bei jedem Flügelschlag wie Fische im Wasser schlängelten. Der eine Reiher hielt den Hals gerade, den Kopf fast einen halben Meter vor der Schulter, der dünne Hals gab nach, krümmte sich zwischen schlagendem Körper und atmendem Schnabel – eine schlanke, schöne Seele auf einem viel zu großen Leib. Der Hals des anderen war nach hinten gebogen wie der eines Pelikans, der winzige Kopf inmitten des Gefieders sah aus wie das Cockpit einer Cessna auf einer Boeing 747. Die Flügel der Reiher schlugen ungefähr so schnell wie mein Herz – gleichmäßig und ohne das Drängende der Jagd oder die hektische Suche nach Aas –, während sie auf meinem ungemähten Rasen zwischen den Kunstwerken umherstolzierten, vorbei an der weiblichen Bronzestatue ohne Kopf, deren Halsstumpf sich keusch dem Feigenbaum zuneigte.
Als ich nach draußen ging, waren die Reiher verschwunden. Aber es war sowieso höchste Zeit für meinen Abendspaziergang. Ich setzte mich auf eine Bank und sah einem Lagerfeuer am Strand zu, das von einer großen Familie umgeben war, die italienische Lieder sang. Der ganze Strand war übersät mit Treibgut, ein älteres osteuropäisches Ehepaar in graubrauner Kleidung ging von sandiger Brandung umspült vorüber, lachte und umarmte sich. Der Mann mit dem Pferdeschwanz – ein Architekt –, der weiter oben an der Straße wohnte, stand in der Nähe am Geländer und starrte vor sich hin. Er war groß, weißhaarig und gut aussehend und kam zweimal täglich herunter, normalerweise allein: einmal zur Morgen-, einmal zur Abenddämmerung, sah sich um und dachte über irgendwelche Dinge nach. Wir hatten schon ein paar Mal miteinander geplaudert, und inzwischen mochte ich ihn: Ausschweifend erging er sich in Zen-Begriffen über Malerei und Dichtung, Meditation und die Tugenden des stillen Lebens; Dinge, die auch auf meiner Liste ganz oben standen. Seine beiden Kinder waren erwachsen und aus dem Haus, er wohnte mit seiner zweiten Frau in einer kleinen Einzimmerwohnung im zweiten Stock neben einem unbebauten Grundstück voller hoher Gräser und Blumen. Möwen kreisten in der warmen Luft, ich erkundigte mich nach seiner Frau, einer Indianerin, mit der er seit zwanzig Jahren zusammenlebte. Sie lese an diesem Abend aus ihrem Manuskript, sagte er, bei einer Sun-Dance-Benefizveranstaltung in der Veterans Hall.
«Es gibt nicht viel Arbeit für Architekten in letzter Zeit», sagte er, «aber, Herrgott, sie ist großartig; die großen New Yorker Verlage reißen sich um die Geschichte einer richtigen Indianerin.» Dann erzählte er mir, dass die meisten Texte in der indianischen Literatur von Mischlingen geschrieben sind, und die Texte seiner Frau bedeuteten einen echten Schritt nach vorn. Ich hatte ihn schon ein paar Tage zuvor gesehen. In einem Café in der Nachbarschaft hatte er am späten Vormittag koffeinfreien Kaffee getrunken und die Stellenanzeigen in den Zeitungen weit entfernter Städte gelesen: Chicago Sun-Times , Detroit Free Press , Seattle Times .
Klarer Himmel, das tiefe Blau des Winters über uns und der blassere Dunst des Spätsommers noch immer am Horizont, während eine sanfte Brise vom Land her die Strandbrecher zu grünen, hohlen Wellen hob; das Wasser weiter draußen in der Bucht hatte Schaumkronen, die See war noch nicht windgetrieben, zeigte nur weiße Flecken auf Blau. Die Vorgärten leuchteten vor Blumen: Calla, Iris, Mohn, Lupinen, süß duftendes Steinkraut. Das Viertel mit seinen Strandhäuschen, seinen engen Gassen und Bürgersteigen aus Erde und Gras, den verwilderten Gärten und entzückenden kleinen Blumenrabatten, mit seinen Holzschindeln und Buntglasfenstern, den alten Autos und Hundehütten hatte etwas sehr menschlichheimeliges und stand in krassem Kontrast zu den astronomischen Preisen der örtlichen Immobilien.
Weißes Haar wehte ihm über die gebräunte Stirn, der Architekt wirkte schlank und kräftig; seine Jeans und sein Pullover waren von der Sonne
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