Survive
Flasche zurück. »Gutes System, morgen früh fülle ich sie wieder auf.«
Ich nehme noch ein paar Schlucke und fühle, wie das Wasser durch meinen Körper rinnt, dann gebe ich ihm die Flasche widerstrebend wieder, damit er sie austrinken kann. Mein Hunger meldet sich, während ich ihm dabei zusehe, wie er den Rest des Wassers trinkt.
»Wir haben Schoko-Rosinen und drei Energieriegel, oder?«, fragt er.
»Ja.«
»Dann lass uns die Schoko-Rosinen essen, und wir teilen uns einen Riegel pro Tag.«
»Aber du bist so viel größer als ich, das scheint mir nicht fair«, wende ich ein.
»Das ehrt dich, aber ich komm schon zurecht.«
Er greift in seine Tasche, und für einen Moment denke ich, dass er gleich fragt, welche Geschmacksrichtung wir für heute Abend wählen sollen. Aber er fragt nicht. Er reißt einfach einen auf, bricht ihn in zwei ungefähr gleich große Stücke und reicht mir eine Hälfte.
»Lass es dir schmecken!«
»Iss langsam«, erwidere ich. »Das würde meine Mum jetzt sagen.«
»Meine Mum fehlt mir. Ich habe immer mit ihr gestritten und geschrien, wenn ich mein Zimmer aufräumen musste. Dann ist sie gestorben, und ich habe es auf einmal vermisst, dass sie immer hinter all dem so her war.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Krebs. Brustkrebs. Ihr Dad hat zwei Päckchen pro Tag geraucht.«
»Tut mir leid«, sage ich. »Und was ist mit deinem Dad?«
»Mein Dad hat sich nach dem Tod meiner Mum um nichts mehr gekümmert. Er hat sich in seine Arbeit und seine Bücher vergraben und meinen Bruder und mich uns selbst überlassen. Manchmal hat uns Will – er war mein Bruder und ist jetzt auch tot – über Wochen hinweg das Abendessen gemacht. Wir konnten nur zwei Gerichte: gegrillten Käse und Rührei.«
»Klingt furchtbar. Ich meine, auch das mit Will. Tut mir sehr leid.«
»Krebs. Ich habe jeden Tag und jede Nacht für ihn gebetet, und es hat absolut nichts geholfen. Er ist dahinvegetiert, und in nicht mal einem Jahr war er tot.«
Ich starre ihn an. Es ist dunkel, daher bin ich mir nicht sicher, ob er mich sehen kann, aber ich bin mir sicher, dass er meine Nähe spürt.
»Es war nicht so schlimm, bevor er krank wurde. Mein Dad und Will sind gut miteinander ausgekommen. Will hat total gern dasselbe gelesen, was Dad gelesen hat. Ich habe Lesen gehasst. Ich bin Legastheniker, oder war einer, und ADHS hatte ich wahrscheinlich auch.«
Ich berühre seinen Rücken und sage ihm, dass es mir leidtut.
»Wir haben seit zwei Jahren nicht mehr miteinander gesprochen, mein Dad und ich. Ich war auf dem Weg nach Hause, um ihn zu sehen.«
»Warum?«
»… ich ihn sehen wollte?«
»Nein, warum hast du nicht mehr mit ihm gesprochen?«
»Will ist gestorben«, antwortet er, und es folgt eine Pause und etwas, was ich für ein leises Schniefen halte, aber vielleicht irre ich mich auch. »Und ich wollte nicht aufs College gehen. Mein Dad meinte, ich könne nicht zu Hause bleiben und bei ihm wohnen. Wenn ich nicht zur Schule gehen und mit ihm zusammen so einen Psychofritzen besuchen würde, müsste ich allein zurechtkommen. Also bin ich ein Jahr oder so mit ihm zu diesem Seelenklempner gegangen, und der hat bei jeder Kleinigkeit die Partei von meinem Vater ergriffen. Ich meine, er hat es nicht direkt ausgesprochen, aber alles wurde immer total verdreht, und dann ging es nur um mich. Und kurz bevor ich für immer fortging, hatten wir eine Sitzung, in der Dr. Klein – so hieß er – mich die ganze Zeit gepiesackt hat, von wegen Hausaufgaben machen und meine Pflichten erfüllen und eben alles tun, was immer mein Dad von mir verlangte, und da bin ich ausgerastet. Ich wollte auf ihn losgehen, doch mein Dad hat mich zurückgehalten. Danach bin ich einfach abgehauen.«
Paul bewegt seinen Arm und berührt zuerst mein Gesicht, dann mein Haar. »Entschuldigung«, sagt er. »Ich muss wissen, wo dein Gesicht ist, ich war desorientiert.«
»Macht nichts. Es war schön«, erwidere ich.
Er streichelt wieder mein Gesicht und mein Haar.
»Ich hab all mein Geld zusammengekratzt und bin nach Westen geflogen. Das ist jetzt etwa zwei Jahre her. Im Winter arbeite ich als Skilehrer. Im Sommer surfe ich in Kalifornien.«
»Und ihr habt nie mehr miteinander gesprochen?«
»Nein.«
»Nichts – keine SMS ?«
»Eine E-Mail alle sechs Monate oder so. So sind wir eben, die Harts sind irgendwie brutal. Mein Großvater hat meinen Vater einmal einen ganzen Sommer lang Steine aus dem Garten wühlen lassen, weil er eine Drei im Zeugnis
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