Survive
hatte. Mir wurde erzählt, dass mein Vater jeden Tag zwei Quadratmeter abgesteckt hat, und dann hat er auf Händen und Knien jeden Stein und jeden Felsbrocken unter dem Rasen hervorgeholt. Er hat sechsundsechzig Tage dafür gebraucht. Als er fertig war, begutachtete mein Großvater den Kübel mit Steinen und hat sie danach alle in einen Fluss geworfen und gesagt: ›Das nächste Mal lernst du mir fleißiger‹, und hat ihn einfach stehen lassen.«
»Krass.« Ich denke über diese Geschichte nach. »Meine Mutter hat mich überhaupt nie für irgendetwas bestraft.«
»Ich vermute, er hatte es nicht leicht«, meint Paul und legt seine Handfläche auf meine Wange. »Aber mir gegenüber war er noch schlimmer. Seinem Dad war er zumindest nicht völlig scheißegal.«
Wir machen es uns bequem und essen die Schoko-Rosinen auf. Mein Magen knurrt in Erwartung weiterer Nahrung. Pauls ist noch lauter, und bei mir melden sich Gewissensbisse, weil wir das Essen gleich aufgeteilt haben.
Rasch senkt sich totale Dunkelheit herab. Der Wind frischt auf und heult an uns vorbei, aber unsere Höhle bietet genug Schutz. Wir schweigen eine ganze Weile. Sein Atem ist warm auf meinem Hals. Ich habe Angst zu sprechen, das Falsche zu sagen, nachdem er mir soeben sein Herz ausgeschüttet hat. Ich habe rasende Kopfschmerzen, und mir tun Muskeln weh, von deren Existenz ich bisher noch gar nichts gewusst habe. In meinem Kopf ist irgendwie alles ganz seltsam durcheinander.
Paul greift nach meiner linken Hand, und einen Sekundenbruchteil später weiß ich, dass er die Narben spüren kann, wo ich letztes Jahr versucht habe, meinen Schalter umzulegen.
»Ich würde niemals fragen«, flüstert er.
»Ich weiß. Ich weiß, dass du das nicht tun würdest.«
»Ich mag es nicht, den Scheiß von anderen Leuten zu kennen.«
»Das kann ich mir denken. Du bist viel zu gemein dazu.«
»Wirklich?«
»Hast du nicht damit gedroht, mich dort unten dem Tod zu überlassen?«
»Habe ich das? Ich glaube schon, oder?«
»Ja.«
»Aber ich habe Wasser für dich geschmolzen, und dank mir hast du es geschafft, einen wirklich schweinehohen Berg zu bezwingen.«
»Ja«, sage ich und drücke seine Hand.
Er hält meine andere Hand in seiner und drückt zurück. Nicht auf eine »Ich-halte-dich-warm«-Art, sondern mehr auf die »Ich-mag-dich«-Art. Vielleicht sind die gegenwärtigen Bedingungen nicht die besten, um diese Bedeutungen auseinanderzuhalten – das kalte Wetter, der Medikamentenentzug, Hunger, all die Schichten willkürlich gewählter Oberbekleidung, die Dunkelheit – , aber ich spüre eine Art Luftveränderung zwischen uns, und so etwas wie Zuneigung steigt in mir auf.
»Damals wurde ich gerade fünfzehn«, spreche ich in die Dunkelheit. »Ich hatte mein Leben lang in New York City gelebt, aber wir waren gerade nach New Jersey gezogen. Mein Vater war schon fast vier Jahre lang tot, und das Geld war knapp, oder zumindest würde meine Mum es so bezeichnen. Das alles war mir völlig egal. Nichts von alledem spielte irgendeine Rolle. Ich hatte ohnehin nie viele Freunde gehabt. Ich war seit Beginn der Highschool immer eine Einzelgängerin gewesen.«
Ich verstumme für einen Moment. Paul sagt nichts, aber er fährt mit der linken Hand durch mein Haar, und ich kann seinen Herzschlag hören. Ich hole tief Luft. Dann hält er in seiner Bewegung inne.
»Du brauchst nicht darüber zu reden.«
»Niemand hat sie je zuvor berührt. Ich meine, niemand, den ich nicht dafür bezahlt habe, sie zu berühren.«
»Du hast irgendwelche Strichjungen angeheuert, damit sie deine Narben berühren?«
Ich lache. Seine dämlichen Witze beginnen mir allmählich ans Herz zu wachsen.
»Oh ja, am liebsten hatte ich es, wenn sie sich als Ärzte verkleideten.«
Er lacht. »Für ein Mädchen bist du echt witzig.«
»Das sind die meisten Mädchen«, sage ich.
»Da hast du wahrscheinlich recht«, flüstert er. »Das ist die Art von Bemerkung, die mein Dad machen würde. Ich hasse es, wenn ich wie er klinge.«
Ich räuspere mich und überlege, welche Worte ich wählen soll. Sonst ist mein erster Impuls immer, zu lügen oder die Wahrheit zu verschleiern. Paul gegenüber will ich aber ehrlich sein.
»Lass mich noch mal anfangen. Mein Vater hat sich an Heiligabend erschossen. Er ist nicht einfach gestorben – so rede ich immer darüber; als sei er gestorben, wie Menschen normalerweise sterben. Mein Urgroßvater hat ebenfalls sein Leben selbst beendet, und meine Großmutter hat das
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