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Survive

Survive

Titel: Survive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Morel
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Mittelstufe »dein Zentrum« nannte. Pauls Zentrum ist voller Prellungen und vielleicht auch Brüche. Selbst eine relativ einfache Bergwanderung wie die, die vor uns liegt, muss für ihn furchtbar qualvoll sein.
    »Du musst dieses Stück auf dem Bauch rüberrutschen«, brülle ich. Ich sehe Paul nicken, und er versucht, sich flach hinzulegen, aber die Schmerzen sind zu heftig. Er schüttelt den Kopf, um mir zu bedeuten, dass es nicht geht. Ich gebe ihm mit der Hand ein Zeichen zu warten.
    Ich rutsche über die schmale Stelle des Grates hinüber, dann stehe ich auf. Ich bohre die Fersen in den Schnee, um so viel Halt wie möglich zu haben. Dann wickele ich das Seil dreimal um meine Unterarme und mache mich bereit. Für eine Sekunde packt mich der Zweifel, doch ich verscheuche ihn rasch. Ich weiß, dass ich Paul niemals halten kann, wenn er in den Abgrund hinabrutscht, aber ich kann ihn nicht im Stich lassen.
    Ich nicke ihm zu, um ihm mitzuteilen, dass ich bereit bin. Paul sieht mich an und schüttelt den Kopf.
    »Du kannst mich nicht halten, wenn ich abstürze. Das ist Selbstmord«, brüllt er. »Entschuldigung – du weißt, was ich meine.«
    »Ich lasse nicht los«, schreie ich zurück. »Du hast mich an der Steilwand auch nicht losgelassen.«
    »Das war etwas anderes – wir hatten eine Chance! «
    Dann lässt Paul sich auf den Bauch nieder, und er schreit: » Scheiße , tut das weh.« Ich weiß, er tut das für mich, um mein Leben nicht zu gefährden, zumindest nicht allzu sehr. Opfer. Das Wort tanzt in meinem Kopf, und ich muss unwillkürlich daran denken, wie nahe Selbstopferung und Selbstmord beieinanderliegen; doch scheint es so viel heldenhafter, für jemand anderen zu sterben. Paul rutscht vorsichtig vorwärts, aber es geht nur langsam voran. Ich ziehe behutsam am Seil und bewege mich rückwärts. Jedes Mal, wenn er eines seiner Beine vorschiebt, gebe ich dem Seil einen kleinen Ruck, um ihm zu helfen. Paul schreit und brüllt bei jeder Rutschbewegung, aber er kommt voran. Nach etwa einer Viertelstunde hat er den Engpass überquert.
    Als er endlich aufstehen kann, umarmen wir einander.
    »Danke«, sagt er.
    »Was habe ich denn getan?«, frage ich perplex.
    »Du warst bereit, für mich zu sterben«, gibt er zurück. »Danke.«
    Ich stelle mich auf die Zehen und küsse seine eisigen Lippen. Ich weine. Ich lege, so sanft ich kann, eine Hand an seine Seite und frage, ob alles in Ordnung ist.
    Er nickt, aber seine Augen verraten, unter welch fürchterlichen Schmerzen er leidet.
    Neue Hoffnung steigt in mir auf, als wir nun am Fuß des Gipfels stehen.
    Wir klettern. Der Hang ist steil und im unteren Bereich dicht mit Bäumen bewachsen, vor allem mit Kiefern. Ich führe uns den Berg hinauf.
    Wir brauchen den ganzen Vormittag, um die ersten hundert Meter hochzusteigen. Unsere Gesichter sind zerkratzt und aufgeschürft, und messerscharfe Zweige haben unsere Hälse zerschunden. Bei fast jedem Schritt schreit, ächzt oder flucht Paul vor Schmerz. Am meisten tut ihm die Brust weh. Ich rufe ihm einige Male etwas zu, aber er beachtet mich nicht.
    Ich bahne mir einen Weg durch eine dichte Baumgruppe, stoße auf eine Bresche, und dann hört der Wald auf.
    Ich bin mir nicht sicher, ob wir schon die Baumgrenze erreicht haben oder ob es hier oben nur zu wenig Wasser für eine durchgehende Bewaldung gibt. Aber ich kann von meinem Platz aus den Gipfel sehen. Der Weg nach oben liegt frei und deutlich sichtbar vor mir, hier und da unterbrochen von einzelnen Bäumen, Felsen und Schneefeldern.
    »Paul!«, rufe ich.
    Sein Handschuh fährt als Erstes durch die Büsche, als er aus den Bäumen heraustritt. Sein Gesicht ist bleich und ausdruckslos, als würde ihm das Blut aus dem Körper gepumpt. Seine Beine zittern, und er fällt vor meine Füße. Ich knie mich schnell neben ihn, und in einer plötzlichen Gefühlswallung von Angst und Ergriffenheit küsse ich ihn auf die Stirn und aufs Haar.
    »Paul? Paul?«
    Er antwortet nicht, doch seine rechte Hand bewegt sich und drückt mich.
    »Ich schaffe es nicht, Solis. Geh du weiter.«
    »Niemals«, widerspreche ich. »Ich weiß, dass es wehtut, aber du schaffst das.«
    Er drückt mich wieder, und ich drücke zurück und küsse ihn noch mal auf den Kopf.
    »Ich erinnere mich jetzt wieder.«
    »Woran denn?«
    »Ich erinnere mich, dass du sterben wolltest. Im Flugzeug.«
    »Ja, das habe ich dir erzählt. Aber jetzt will ich es nicht mehr.«
    »Ich will nicht sterben«, flüstert er.
    »Ich werde

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