Susan Mallery - Buchanan
ihre Aktentasche und ging in das Schulgebäude.
Die Planung individueller Unterrichtsziele war eines der wichtigsten Säulen der sonderpädagogischen Förderung. Eltern und Lehrer setzten sich gemeinsam an einen Tisch und diskutierten, welche Ziele ihre Kinder im kommenden Schuljahr erreichen sollten. Für Katherine waren diese Besprechungen oft ein Kampf, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Denn ihr Anliegen war es, die Ziele immer ein Stück höher zu stecken, damit das Kind sich etwas mehr anstrengen musste, als von ihm erwartet wurde. Nur auf diese Weise war in ihren Augen Entwicklung möglich.
Die Lehrer, durchweg engagierte Pädagogen, strebten das an, was möglich war. Katherine aber glaubte an das Unmögliche – und sie war stolz darauf.
Vor zehn Jahren hatte man ihr mitgeteilt, dass Ian niemals in einer normalen Klasse mitkommen würde. Dass er es nicht aushalten würde, ständig wegen seiner Behinderung verspottet zu werden und dass es körperlich für ihn zu anstrengend sein würde. Heute bekam er Angebote von hervorragenden Universitäten aus dem ganzen Land, inklusive Stanford und der Technischen Hochschule Massachussetts, die weltweit als eine der besten galt.
Doch eine eigene Meinung durchzuboxen war immer ein mühevolles und anstrengendes Unterfangen. Viele ihrer Freunde hatten ihr geraten, den Kampf aufzugeben und ihre Kinder in Privatschulen zu geben. Finanziell wäre das natürlich kein Problem – doch Katherine ging es um mehr als eine einfache Lösung.
Außerdem war sie nicht nur eine Mutter, sondern auch eine einflussreiche Frau. Mit jedem Kampf, den sie gewann, wurde es für Eltern, die nicht über ihre Beziehungen verfügten, ein Stück leichter. Deshalb nahm sie an diesen Sitzungen teil und setzte sich dafür ein, dass die Kinder stärker gefördert wurden, als in den Unterrichtsplänen vorgesehen war.
Sie betrat den kleinen Besprechungsraum. Olivers Lehrerin, Miss Doyle, sowie die Direktorin und die Lehrerin für Sonderpädagogik waren bereits da.
Nachdem sie ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten, kamen sie zum Wesentlichen.
„Unser Hauptziel für das nächste Jahr ist Lesen“, sagte Miss Doyle. „Wir glauben, dass Oliver am Ende dieses Schuljahres auf dem Stand eines Erstklässlers sein sollte.“
Katherine setzte ihre Brille auf und blätterte in den Unterlagen, die sie mitgebracht hatte. „Das war das Lernziel des vorigen Jahres. Lesen lernen und sich besser auf neue Situationen einstellen.“
Die drei anderen Frauen tauschten vielsagende Blicke aus. Miss Doyle seufzte. „Mrs. Canfield, Oliver ist in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben. Seine Lernfähigkeit ist eingeschränkt. Daran wird sich nichts ändern, sosehr Sie sich auch wünschen, es wäre anders.“
Die Lehrerin war ungefähr 25 oder 26 Jahre alt. Katherine fühlte sich im Vergleich zu ihr alt und müde. Andererseits hatte Katherine schon zu einem Zeitpunkt Erfahrung mit der Erziehung von Kindern gehabt, als Miss Doyle vermutlich noch gar nicht auf der Welt gewesen war. Als Mutter wusste Katherine einfach besser, was ihre eigenen Kinder konnten und was nicht.
„Was ich möchte“, sagte Katherine langsam, „sind Ziele, die für das Kind eine Herausforderung darstellen. Oliver bekommt von zu Hause viel Unterstützung. Wir können ihn noch mehr unterstützen. Allerdings kann ich nicht akzeptieren, dass er nach zwei Jahren Unterricht beim Lesen immer noch auf dem Stand eines Erstklässlers sein soll.“
„Oliver ist ein liebenswerter kleiner Junge“, ergriff nun die Direktorin das Wort. „Aber er wird nie normal sein. Seiner Entwicklung sind, wie Miss Doyle eben bereits angedeutet hat, Grenzen gesetzt.“
„Ich stimme Ihnen zu. Aber wenn wir alle der Meinung sind, dass er nicht mehr erreichen kann, ist sein Schicksal damit schon jetzt besiegelt. Die Menschen wachsen, wenn man an sie glaubt, sie fordert und fördert. Das ist immer und immer wieder bewiesen worden. Erwarte mehr, und du bekommst mehr.“
Katherine dachte plötzlich an Mark. Auch er hatte in gewisser Weise begrenzte Fähigkeiten, wenn auch nicht auf dem Gebiet seiner Intelligenz.
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, ob Oliver in einer Privatschule nicht individueller gefördert werden könnte?“, fragte Miss Doyle.
Die Direktorin verzog das Gesicht.
Katherine starrte Olivers Lehrerin fassungslos an. „Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht in der Lage sind, meinen Sohn zu unterrichten?“
„Nein, ich meine ja nur
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