Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
blickte an mir herunter.
Mit den Jeans und der Motorradjacke sah ich tatsächlich nicht ganz so aus wie die Leute aus den Historienfilmen des 19. Jahrhunderts. Geschweige denn wie Aufnahmen aus der Zeit.
»Sie meinte, sie würde ein anständiges Haus führen und ich sollte mich nicht noch mal blicken lassen.«
Paul lachte laut auf, was mir einen Stich versetzte.
»Was denn?«, wollte ich wissen.
»Ach, nichts«, antwortete er, hörte aber nicht auf zu lachen.
»Jetzt sag schon.«
»Okay, aber versprich mir, dass du nicht sauer wirst. Sie hat dich wahrscheinlich für eine Prostituierte gehalten.«
»Quatsch!«
»Ich hab’s gewusst, dass du sauer wirst.«
»Na ja, also ich bin ja nun nicht gerade wie eine Bordsteinschwalbe angezogen. Immerhin trage ich Hosen!«
»Das dürfte genau das Problem sein«, sagte Paul. »Keine anständige Dame in diesem Jahrhundert würde Hosen tragen. Gut, dass Jesse dich so nicht gesehen hat. Er hätte wahrscheinlich nicht mal ein Wort mit dir gewechselt.«
So langsam hatte ich die Nase voll von Paul. »Da sieht man mal, wie schlecht du ihn kennst. Natürlich hätte er das.«
»Der Jesse, den du kennst, vielleicht. Aber über den sprechen wir hier ja nicht, oder? Wir sprechen über den, der dich noch nie gesehen hat. Der nicht seit hundertfünfzig Jahren im Nirgendwo herumlungert und die Welt an sich vorbeiziehen sieht. Wir sprechen über den Jesse, der gerade nach Carmel unterwegs ist, auf dem Weg zur Hochzeit mit der Frau seiner …«
»Halt die Klappe!«, unterbrach ich ihn, bevor er den Satz beenden konnte.
Pauls Grinsen wurde nur noch breiter. »Sorry. Wir müssen hier eh noch ein bisschen Zeit zusammen totschlagen, da hat es wenig Sinn, wenn wir uns streiten. Komm, wir gehen auf den Heuboden und warten das Ende des Gewitters ab.«
Er verschwand im Dunkeln. Ich hörte nur das leise Kratzen seiner Füße auf einer Leiter. Eines der Pferde wieherte.
»Keine Angst, Suze«, rief Paul von irgendwo über mir. »Das sind nur Pferde. Die beißen nicht. Nicht doll jedenfalls.«
Das war gar nicht der Grund meiner Besorgnis gewesen. Aber selbst wenn, hätte ich das ihm gegenüber bestimmt nicht zugegeben.
»Ich bleibe lieber hier unten«, rief ich hinauf in die Richtung, aus der seine Stimme gekommen war.
»Soll mir recht sein«, rief er zurück. »Wenn du Wert darauf legst, erwischt zu werden. Mir würdest du damit sogar einen Gefallen tun. Mr O’Neil war vorhin hier, um nach den Pferden zu sehen. Ich bin mir aber ganz sicher, dass er kein Mädchen erschießen würde. Das heißt, wenn er rechtzeitig erkennt, dass du ein Mädchen bist.«
Im Nu war ich auf der Leiter und kraxelte hinauf.
»Ich hasse dich«, war mein einziger Kommentar.
»Tust du nicht«, rief Paul aus der Dunkelheit. Am Ton seiner Stimme konnte ich erkennen, dass er immer noch grinste. »Aber rede dir das ruhig weiterhin ein, wenn es dich glücklich macht.«
Kapitel 14
A uf dem Heuboden war es warm und trocken. Nicht nur wegen des Heus. Die Wärme rührte auch daher, dass Paul und ich eng beieinander saßen, um uns gegenseitig zu wärmen – und aus keinem anderen Grund. Das hatte ich sofort klargestellt, als er mir die Kuhle zeigte, die er als Lagerstatt ins Heu gegraben hatte.
»Ich jedenfalls habe keine Lust, an Unterkühlung zu sterben«, hatte er entgegnet. Die Pferdedecke war auch wirklich nur ein schwacher Schutz. Wenigstens hatten meine Zähne aufgehört zu klappern. Meine Jeans trocknete allerdings langsamer, als mir lieb war.
»Ich behalte meine Hände auch bei mir«, hatte Paul mir versprochen. Bisher hatte er sich daran gehalten.
Der Regen prasselte noch immer gegen die Scheunenwände und Blitze fegten über den Nachthimmel. Der schlimmste Teil des Gewitters schien aber vorüber zu sein. »Ich verstehe immer noch nicht, was du hier genau willst«, sagte ich schließlich. »Wolltest du nicht Felix Diego aufhalten?«
»Doch.« In der Dunkelheit konnte ich nur Pauls Umrisse erkennen, die diffus von dem Licht umspielt wurden, das durch die Spalten und Astlöcher der Bretterwände fiel.
»Na, und warum tust du das nicht? Oder hast du etwa …?« Bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut. »Hast du ihn etwa schon gefunden? Aber warum bist du dann …?«
»Ruhig, Suze«, unterbrach er mich. »Ich habe ihn nicht gefunden. Noch nicht. Aber wir beide wissen, dass er morgen hier auftauchen wird. Genau wie Jesse.«
Seltsamerweise entspannte ich mich wirklich etwas. Paul hatte Diego demnach noch
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