Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
seiner Handfläche. Ein ganzer Kuchen. Apfelkuchen, wenn ich meiner Nase trauen durfte.
Und noch warm.
»Frag nicht«, sagte er und zog – auch das noch! – zwei Gabeln aus seiner hinteren Hosentasche. »Iss einfach.«
»Paul …« Ich hörte Geräusche unter uns. Paul hatte bisher die ganze Zeit geflüstert. Jetzt wusste ich auch, warum.
Wir waren nicht allein.
Von unten ertönte eine Männerstimme. »Los, beweg dich.« Er sprach offensichtlich mit den Pferden.
»Hast du den gestohlen?«, fragte ich, während ich dem Kuchen zu Leibe rückte. Zeitreisen machen nicht nur müde, sondern auch hungrig.
»Du solltest doch nicht fragen«, antwortete Paul und schob sich eine Gabel voll in den Mund.
Gestohlen oder nicht – der Kuchen war verdammt lecker. Wenn auch nicht der beste, den ich jemals gegessen habe. (Ob man hier draußen im Wilden Westen überhaupt Zugriff auf solche Zutaten wie Zucker oder dergleichen hatte?) Aber er stillte auf angenehme Weise meinen Hunger.
Was mich zu einem weiteren Bedürfnis brachte.
Paul schien meinen Gesichtsausdruck richtig zu deuten.
»Hinter der Scheune ist ein Plumpsklo«, sagte er.
» Was für ein Ding bitte?«
»Du weißt schon, was ich meine.« Er grinste. »Nimm dich in acht vor den Spinnen.«
Ich war mir sicher, dass er scherzte.
Was leider nicht der Fall war. Es gab wirklich Spinnen, aber dafür kein Toilettenpapier. Jedenfalls keines, wie man es aus unserer Zeit kennt. Meine Güte, auf diesem Schleifpapier konnte man ja noch nicht mal schreiben, geschweige denn … Lassen wir das.
Außerdem musste ich mich beeilen, damit niemand mich in meinen modernen Klamotten sah und unangenehme Fragen stellte.
Als ich aus der Scheune getreten war, war mir erst mal die Luft weggeblieben bei dem Anblick, der sich mir bot. Denn ich sah … nichts. Überhaupt gar nichts. Weit und breit. Keine Häuser. Keine Telefonmasten. Keine asphaltierten Straßen. Keine Supermärkte. Keine Burgerschuppen. Nichts. Nur Bäume. Und eine staubige Gasse, die sich hier wohl Straße schimpfte.
Was ich allerdings von hier aus sehen konnte, war die rote Kuppel der Basilika. Ich konnte sie klar und deutlich erkennen, unten im Tal. Hinter ihr lag das Meer. Wenigstens das hatte sich in hundertfünfzig Jahren nicht verändert. Im Gegensatz zu den sanitären Einrichtungen – ein Hoch auf den Fortschritt …
Von Mr O’Neil war nirgends eine Spur zu sehen, als ich mich zurück auf den Heuboden schlich. Er hatte anscheinend die Pferde gesattelt und machte jetzt … Na ja, das, womit man als Mann im Jahr 1850 wohl so seine Zeit verbrachte, was immer das auch sein mochte.
Paul erwartete mich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht.
»Was ist?«, fragte ich und erwartete eigentlich nur ein paar Scherze über das Plumpsklo.
»Nichts«, entgegnete er schlicht. »Es ist nur … Ich habe eine Überraschung für dich.«
Ich hoffte auf eine weitere Mahlzeit, auch wenn ich eigentlich noch satt vom Kuchen war. »Und zwar? Sag jetzt nicht, es ist ein Cheeseburger, ich habe hier nämlich noch kein Drive-In gesehen.«
»Nein, kein Cheeseburger.«
Dann schoss er blitzschnell auf mich zu, schneller, als ich ihn jemals erlebt hatte, und packte mich. Aus seiner hinteren Hosentasche zog er ein Seil.
Das war nun nicht das erste Mal, dass mich jemand fesselte. Paul war aber immerhin der Erste, mit dem ich schon mal rumgeknutscht hatte. So etwas Hinterhältiges hatte ich selbst Paul nicht zugetraut. Meinen Lover zu retten, damit ich ihm nie begegnen würde? Klar, das klang eindeutig nach Paul. Aber mir mit Gewalt die Hände auf den Rücken zu fesseln? Also wirklich.
Natürlich wehrte ich mich. Ein paar Hiebe mit dem Ellenbogen konnte ich auch austeilen. Aber schreien war nicht drin, wenn ich nicht Mrs O’Neil oder den örtlichen Sheriff aufschrecken wollte. Im Gefängnis wäre ich Jesse keine große Hilfe.
Das war ich ihm im Moment allerdings auch nicht.
»Glaub mir«, bemerkte Paul, während er die Knoten, die mir sowieso schon die Blutzufuhr abdrückten, noch fester um meine Gelenke schnürte, »das tut mir sehr viel mehr weh als dir.«
»Das bezweifle ich«, sagte ich, immer noch gegen ihn ankämpfend. Was in meiner Position nicht ganz einfach war. Ich lag nämlich bäuchlings auf dem Heuboden, mit Pauls Knie im Rücken.
»Okay, du hast recht«, sagte er, während er zu meinen Füßen überging. »Im Grunde tut es mir überhaupt nicht weh. Aber dich wird es davon abhalten, Dummheiten zu machen, während
Weitere Kostenlose Bücher