Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch

Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch

Titel: Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meg Cabot
Vom Netzwerk:
Ohren. Ich war über die Jahre extrem hellhörig geworden, was dieses spezielle Geräusch anging. Selbst in einem vollbesetzten Stadion hätte ich es über eine Million Sitzreihen hinweg hören können: Es war Jesses Stimme.
    Er rief nach jemandem. Ich konnte nicht genau ausmachen, was er sagte. Aber er klang irgendwie … irgendwie anders.
    Seine Stimme kam näher.
    Auf die Scheune zu.
    Er hatte mich gefunden! Wie er das angestellt hatte – keine Ahnung. Dr. Slaski hatte nichts davon erwähnt, dass auch Geister durch die Zeit reisen können. Aber vielleicht konnten sie das. Vielleicht war er genauso wie Paul und ich in die Vergangenheit gereist, um nach mir zu suchen. Um mich zu retten. Um mir zu helfen, ihn zu retten.
    Ich schloss die Augen und dachte intensiv an seinen Namen. Das hatte schon öfter funktioniert. Wenn ich ihn ganz fest im Geiste rief, materialisierte er sich vor mir und fragte mich, was denn los sei.
    Diesmal erschien er aber nicht. Ich öffnete meine Augen. Nichts.
    Trotzdem drang noch immer seine Stimme von irgendwo unten zu mir herauf. Jetzt verstand ich auch seine Worte: »Nein, nein, es ist schon in Ordnung, Mrs O’Neil.«
    Mrs O’Neil … Mrs O’Neil konnte Jesse sehen?
    Ich hörte, wie sich knarrend das Scheunentor öffnete. Dann erklangen Schritte.
    Schritte? Von Jesse? Dem Geist?
    Ich robbte so weit ich konnte auf dem Heuboden vor und reckte den Hals, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Aber das Seil, mit dem Paul mich an den Pfeiler gefesselt hatte, ließ mir nur wenig Spielraum. Jetzt konnte ich Jesse wieder hören. Und verstehen. Er sprach mit leiser, sanfter Stimme … mit seinem Pferd.
    Jesse sprach mit seinem Pferd. Und das Tier antwortete mit einem leisen Wiehern.
    Ach so! Endlich begriff ich: Das war gar nicht Geister-Jesse, der kam, um mich zu befreien. Das war Lebend-Jesse – der mich noch nicht einmal kannte. Lebend-Jesse, dessen Schicksal heute Nacht in meinem Zimmer besiegelt werden würde.
    Meine Hände und Füße begannen zu kribbeln, als wären sie mit Eiswasser übergossen worden. Und das lag nicht nur an der unbequemen Position, in der ich nun schon so lange verharrte. Ich musste ihn sehen – unbedingt! Aber wie?
    Den Geräuschen nach schien er sich zu bewegen und ich drehte den Kopf mit.
    Durch einen Spalt in den Bodenbrettern erspähte ich einen farbigen Fleck – sein Pferd. Das war sein Pferd. Ich sah, wie jemand mit den Händen über den Sattel fuhr und ihn abnahm. Jesse. Direkt unter mir. Er war …
    Was mich dazu veranlasste, das zu tun, was ich jetzt tat, weiß ich nicht. Ich wollte eigentlich gar nicht, dass Jesse auf mich aufmerksam wurde. Wenn er mich hier fand, würde das vielleicht alles auf den Kopf stellen. Möglicherweise würde er dann sogar am Abend nicht ermordet werden. Und dann würde ich ihm niemals begegnen …
    Doch das Verlangen, ihn zu sehen – lebend zu sehen –, übermannte mich. Ohne darüber nachzudenken, schlug ich mit dem Kopf auf den Boden, um mich bemerkbar zu machen.
    Seine Hände verharrten am Sattel. Er hatte mich gehört. Ich versuchte, nach ihm zu rufen, aber wegen des Knebels, den Paul mir in den Mund geschoben hatte, brachte ich nur ein Grmpf, mmpf! zustande. Also begann ich, mit den Füßen zu trommeln.
    »Ist da jemand?«, rief Jesse.
    Ich polterte weiter.
    Diesmal rief er nichts, sondern kletterte die Leiter zum Heuboden hoch. Die hölzernen Sprossen ächzten unter seinem Gewicht.
    Sein Gewicht. Jesse hatte Gewicht.
    Dann sah ich seine Hände – diese schönen, braun gebrannten, gefühlvollen Hände – auf der obersten Sprosse und kurz darauf seinen Kopf.
    Mir stockte der Atem. Jesse. Er war es wirklich.
    Aber nicht der Jesse, den ich bisher kannte. Er war lebendig. Er war … da. Körperlich und greifbar füllte er den Raum, als gäbe es nichts als ihn auf der Welt. Als würde an der Stelle, an der er gerade war, alle Materie um ihn herum freiwillig zur Seite weichen, um ihm Platz zu machen.
    Das war kein Leuchten um ihn herum, das war ein Strahlen. Und zwar nicht die geisterhafte Aura, die ich sonst an ihm gesehen hatte, sondern eine Aura voller Leben, voller Kraft. Fast so, als wäre mein Jesse eine blasse Kopie, ein Zerrbild dessen, was ich jetzt vor mir sah. Noch nie hatte ich so deutlich bemerkt, wie sein schwarzes Haar sich in seinem braun gebrannten Nacken kräuselte, wie tiefbraun seine Augen waren, wie strahlend weiß seine Zähne … Die Kraft in seinen langen Beinen, als er sich neben

Weitere Kostenlose Bücher