Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
mich kniete, die Sehnen an seinen Handrücken, die Muskeln seiner bloßen Arme …
»Miss?«
Und seine Stimme. Seine Stimme! So tief und kraftvoll, dass sie jeden Wirbel meines Rückgrats in Schwingungen versetzte. Das war Jesses Stimme, und jetzt sogar in Dolby Surround.
»Miss, geht es Ihnen gut?«
Jesse starrte mich aus sorgenvollen Augen an. Er fasste sich in den Stiefel und zog ein langes, blitzendes Messer heraus. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete ich, wie mir das Messer immer näher kam.
»Keine Angst«, sagte Jesse. »Ich werde Sie losbinden. Wer hat Ihnen das nur angetan?«
Mit diesen Worten zog er den Knebel heraus. Meine Mundwinkel waren ganz aufgescheuert von dem Seil. Im Nu waren auch meine Hände frei. Sie schmerzten, aber sie waren frei.
»Können Sie sprechen?« Jesse war nun an meinen Füßen zugange und schnitt mit seinem Messer präzise die Stricke durch, mit denen Paul mich verschnürt hatte. »Hier«, sagte er.
Er legte das Messer beiseite und hielt mir etwas vors Gesicht. Wasser. In einem kleinen Fläschchen. Ich nahm es ihm aus der Hand und stürzte es gierig hinunter. Mir war nicht bewusst gewesen, wie durstig ich war.
»Vorsichtig«, sagte Jesse mit dieser unglaublichen Stimme. »Ich kann Ihnen mehr besorgen. Bleiben Sie hier, ich hole Hilfe …«
Bei dem Wort »Hilfe« ließ ich wie von der Tarantel gestochen das Fläschchen fallen und packte ihn mit beiden Händen am Hemdkragen.
Das war nicht das Hemd, das ich an Jesse kannte, aber ein ähnliches, aus demselben weichen, weißen Leinen, wenn auch hochgeschlossener. Dazu trug er eine Weste aus geflammter Seide – ein Wams, so nannte man das damals wohl.
»Nein!«, krächzte ich und erschrak selbst über meine raue Stimme. »Geh nicht!«
Dabei hatte ich keine Angst, dass er Mrs O’Neil anschleppen könnte, die mich sofort als die Hure identifizieren würde, die gestern Nacht in ihrem Haus herumgeschlichen war. Nein, ich wollte einfach nicht, dass er wegging. Er durfte mich nie wieder allein lassen. Nie wieder.
Das hier war Jesse, der echte Jesse. Der Mann, den ich liebte.
Und der sehr bald sterben würde.
»Wer sind Sie?«, fragte er mich, während er das Fläschchen aufhob und es mir zurückgab, da es noch nicht ganz leer war. »Wer hat das getan? Wer hat Sie hier derart zurückgelassen?«
Ich trank den Rest Wasser aus. Ich kannte Jesse lang genug, um die Wut in seinen Augen zu sehen; die Wut auf denjenigen, der das hier verbrochen hatte.
»Ein … äh … ein Mann«, antwortete ich. Jesse – dieser Jesse – kannte Paul ja nicht.
Mich übrigens auch nicht. Das war offensichtlich.
Er runzelte die Stirn. Die Narbe über seiner einen Augenbraue sah dadurch wirklich zum Küssen aus. Bei Lebend-Jesse war die Narbe gar nicht so ausgeprägt wie bei Geister-Jesse, fiel mir auf.
»Und dieser Mann, hat der Ihnen auch diese absonderlichen Kleider angezogen?«, wollte Jesse wissen. Er meinte natürlich meine Motorradjacke und die Jeans.
Das brachte mich fast zum Lachen. Er wirkte wie ein vollkommen anderer Jesse – hundert Prozent realer als der Jesse, den ich kannte –, aber seine Kommentare über meine Garderobe waren gleich geblieben.
»Ja«, log ich. Das klang sehr viel glaubwürdiger als die Wahrheit.
»Ich werde ihn auspeitschen lassen«, sagte Jesse ohne große Emotion in der Stimme. Als würde er tagtäglich den Befehl geben, jemanden auspeitschen zu lassen, der gerade mal wieder ein Mädchen in absurde Klamotten gesteckt und auf dem Heuboden gefesselt hatte. »Wer sind Sie? Ihre Familie wird sicher schon nach Ihnen suchen.«
»Nein, nein«, sagte ich beschwichtigend, »das … äh … das glaube ich nicht. Ach, und meine Name ist Suze.«
Wieder ein Stirnrunzeln. »Süß?«
»Nein, Suze«, sagte ich noch einmal deutlich und musste unwillkürlich lachen. Es war so wunderbar, ihn so zu sehen. »Kurz für ›Susannah‹. Wie in dem Lied mit dem Banjo: ›Oh, Susannah, oh don’t you cry for me …«
Diese Worte versetzten mir plötzlich einen Stich. Ich musste an das erste Mal denken, als ich ihm begegnet war. In meinem Zimmer, an meinem ersten Tag in Carmel. Damals wusste ich noch nicht, was ich heute wusste. Der Tag damals war der Wendepunkt in meinem Leben gewesen und von da an war alles Vorherige nur noch V. J. – Vor Jesse. Alles danach natürlich S. J. – Seit Jesse. Hätte ich damals gewusst, dass der Kerl in dem bauschigen Hemd mit der eng sitzenden schwarzen Hose mir eines Tages mehr
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