Susanne Barden - 03 in New York
jedoch, einem Mädchen, das selbst noch ein halbes Kind ist, beizubringen, wie geduldig und verständnisvoll kleinere Kinder behandelt werden müssen. Susy war kaum eine Woche in ihrem Bezirk tätig gewesen, als sie sich vor diese Aufgabe gestellt sah.
Sie hatte ein kleines Negermädchen zu pflegen, das sich ein Bein gebrochen hatte und mit einem Gipsverband im Bett lag. Auf den ersten Blick erschien der Fall sehr einfach. Susy machte das Bett der kleinen Mary, badete sie und massierte ihr Bein. Die Kleine war sehr artig und vernünftig. Sie hatte noch zwei Geschwister - Effie, ein Mädchen von vierzehn, und Alonzo, einen hübschen Jungen von vier Jahren. Die Eltern der Kinder waren tagsüber fort und überließen Effie die Aufsicht über die beiden kleineren. Bei Susys erstem Besuch zeigte sich Effie recht verständig. Alonzo aber hatte die schlechte Angewohnheit, am Daumen zu lutschen.
»Das müssen wir ihm abgewöhnen«, sagte Susy zu Effie. »Ich werde ihm eine Sternenkarte geben. Paß mal auf!« Sie kramte in ihrer Tasche und holte Papier, einen Bleistift und eine kleine Pappschachtel hervor. Dann rief sie den kleinen Jungen herbei und hielt ihm ihre offene Hand hin, in der kleine goldene Sterne blitzten. »Sieh mal, was ich hier habe, Alonzo!«
»Was ist das?« Alonzos rundes Engelsgesichtchen leuchtete neugierig auf. Er fuhr mit seiner kleinen dicken Hand in die krausen Haare und starrte mit blanken Augen auf die glitzernden Dinger.
»Das sind goldene Sterne - für dich!« Susy zeichnete vier Reihen Quadrate auf das Papier, in jede Reihe sieben. Dann tippte sie mit dem Bleistift in das erste Quadrat. »Dies ist für heute - und dies ist für morgen. Jeden Tag, an dem du nicht am Daumen lutschst, wird Effie dir einen Stern aufkleben. Und wenn du sieben kleine Sterne in einer Woche hast« - Susy machte eine dramatische Pause - »dann bekommst du einen ganz großen Stern.«
Alonzo starrte sie schweigend an, den Daumen im Mund.
»Möchtest du einen Stern haben?«
Der kleine Krauskopf nickte heftig.
»Dann mußt du den Daumen aus dem Mund nehmen.«
Schnell rutschte der Daumen aus dem Mund.
»So ist’s recht! Ist der Junge nicht brav, Effie?«
Effie antwortete nichts, und Susy hielt ihr. Schweigen für Schüchternheit. Als Alonzo sich mit einem Spielzeug zu beschäftigen begann, versuchte sie ihr klarzumachen, wie sie den kleinen Bruder behandeln müsse. »Du mußt ihn stets loben, wenn er artig ist. Kinder sind nur zu einer Sache zu bekommen, wenn es sich lohnt. Sie müssen sie gern tun, dann wird es ihnen mit der Zeit zur Gewohnheit.«
»Hm«, machte Effie teilnahmslos.
Bei Susys nächstem Besuch aber war sie sehr aufgeregt. »Alonzo ist unartig«, klagte sie den Tränen nahe. »Er schlägt Mary auf das böse Bein und hört nicht auf mich. Und wenn ich ihn nicht lasse, wird er wütend.«
»Man kann einen unartigen Jungen sehr leicht artig machen.« Susy gab sich Mühe, einfach und verständlich zu sprechen. »Ich glaube, er ist eifersüchtig, weil sich alles um Mary dreht, seitdem sie im Bett liegt. Man muß ihn dahin bringen, daß er ihr kleine Dienste tut, und ihn dann dafür loben. Er muß sich wichtig und erwachsen vorkommen. Wenn er wütend wird, kümmerst du dich am besten gar nicht um ihn. Bring ihn einfach in ein anderes Zimmer und laß ihn dort allein.«
Effie sah Susy mürrisch an. »Ich will es versuchen, Schwester. Aber wenn ...« Sie brach ab und starrte böse auf den engelhaften Alonzo.
»Hat Alonzo heute einen Stern bekommen?« fragte Susy am nächsten Tag. »Zeig mal deine Sternenkarte her, Alonzo.«
Der Kleine schielte mit zitternden Lippen zu Effie hin.
»Ich hab sie ihm fortgenommen, Schwester«, sagte Effie. »Er machte sie ganz schmutzig. Und dann wurde er wieder wütend.«
Susy nahm ihre ganze Geduld zusammen. »Hast du getan, was ich dir gesagt habe?«
»Ja, sicher. Ich habe ihn den ganzen Nachmittag in den Kohlenkeller gesperrt. Das ist gut für ihn. Und ich konnte auf der Straße
spielen. Meine Freundin hat Rollschuhe, und sie gab mir einen.«
Bevor Susy dazu kam, etwas zu erwidern, mischte sich Mary ein. »Effie hat zu Alonzo gesagt, er soll mir ein Glas Wasser bringen, sonst klebt sie ihm eine. Und Alonzo wurde böse und hat alles Wasser über sie gegossen. Effie war den ganzen Nachmittag fort, und ich war allein, weil Alonzo war in Kohlenkeller. Ma wollte Effie verhauen, aber Effie sagte, daß sie nur gemacht hat, was die Schwester ihr gesagt hat.«
Das war ja
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