Suter, Martin
zu öffnen und Licht zu machen, aus Angst, man
könnte ihn von außen sehen. Wer weiß, ob da draußen nicht ein Personalhaus war,
von dem man die Villa einsehen konnte. Und ohne Licht würde er nichts finden in
einem fremden Haus.
Die Villa lag an der Straße, die am See entlangführte.
Die Vermutung, dass sie »Seestraße« hieß, lag nahe. Er müsste also nur die
Hausnummer herausfinden. Und die war meistens am Hauseingang oder am Eingang
des Grundstücks angebracht.
Er öffnete die schwere Haustür. Dicke Regenschnüre
glitzerten in dem Licht, das aus der Halle drang. Im Schutz des Vordaches
suchte er vergeblich Türpfosten und -rahmen nach einer Hausnummer ab. Sie
musste beim Tor angebracht sein.
Allmen zog seinen Mantel an und nahm einen Schirm aus dem
Ständer bei der Garderobe. Er sah sich nach einem Platz um, wo er seinen
schwarzen Frottiertuchbeutel mit der Schale kurz deponieren konnte, nahm ihn
dann aber vorsichtshalber mit.
Schwer trommelten die Tropfen auf den Schirm. Allmen
überquerte den Kies der Auffahrt und fand im schwachen Licht den Weg, der zum
Tor führen musste. Es lag etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt und war
unverschlossen. Dort, am rechten Pfeiler, halb verdeckt von der Thujahecke,
stand die Nummer, weiß auf blauem Email: 328b.
Die Straße, die wohl Seestraße hieß, verlief linker Hand
pfeilgerade. Auf der rechten Seite entzog sie sich in einer weiten Rechtskurve
bald dem Blick. Dort schien jetzt ein Scheinwerfer auf, kam rasch näher und
tauchte den Regenvorhang in halogenblaues Licht.
Allmen duckte sich hinter die Hecke und wartete, bis der
Wagen vorbeigerauscht war.
Dieses kurze Intermezzo brachte Allmen in die Wirklichkeit
zurück. Was tust du hier eigentlich? Bist du wahnsinnig geworden? Willst dich
mit einer geklauten Galle-Schale aus dem Haus schleichen und denkst, du wirst
nicht erwischt? Morgen bemerken die den Diebstahl, und wer, außer dir, kommt
als Dieb in Frage? Hast du den Verstand verloren, Fritz?
In seinen sehr seltenen Selbstanklagen nannte Allmen sich
»Fritz«, wie früher sein Vater.
Allmen stand noch einen Moment hinter die Hecke geduckt
im strömenden Regen und dachte nach. Dann schob er das schwarze Bündel zwischen
die dichten Thujazweige und ging zurück zum Haus.
Allmen erwachte allein in einem fremden Bett. Die
Bettwäsche war aus Satin, das Tageslicht von blick-dichten Gardinen gefiltert,
der Platz neben ihm noch warm. Er brauchte nicht lange, um die Erinnerungen an
die letzten Stunden wachzurufen.
Die Tür zum Badezimmer ging auf, und durch die
halbgeschlossenen Augen sah Allmen, wie Joehe - wie er sie aus taktischen
Gründen für sich wieder nannte - ausgeruht, frisch und zurechtgemacht das
Schlafzimmer betrat. Er schloss die Augen ganz. Sie zog energisch die Vorhänge
auf. Er hörte, wie ihre Schritte sich näherten. Er spürte ihr Gewicht auf der
Matratze. Er roch ein neues Parfüm.
»Ich hätte schwören können, du wärst nicht mehr hier, wenn
ich aufwache.«
Ihre Lippen fühlten sich weich an, und ihr Lippenstift
roch wie teurer Puder.
Eine Stunde später saßen sie nebeneinander an einem
Tisch, der Platz für vierundzwanzig Gäste bot, und tranken Kaffee. Vor ihnen
die Reste eines kaum berührten zu reichlichen Frühstücks: Croissants, Butter,
Honig, Konfitüren, Orangensaft, Aufschnitt, Eier, Müesli, Früchteschale, Lachs,
Käseplatte. Eine Hausangestellte hatte sie bedient und sich danach
zurückgezogen. Sie kam nur, wenn Joelle auf eine kleine Fernbedienung drückte,
die neben ihrem Teller lag.
Sie befanden sich im Speisezimmer der Villa, dessen
Fenster auf eine Veranda, den Garten und den See gingen. Es regnete nicht mehr,
aber die Wolken hingen noch immer tief und spiegelten sich schwarzgrau im
Wasser.
Der Raum war, wie das ganze Haus außer Joelles Zimmer, mit
Geschmack eingerichtet. Überall war die Vorliebe des Hausherrn für Jugendstil
zu erkennen, auch die Villa stammte aus jener Zeit.
Joelies Vater war Klaus Hirt, der Financier, so viel hatte
Allmen bereits in Erfahrung gebracht. Hirt kontrollierte über seine
Finanzgesellschaften mehrere Unternehmen des Landes. Er selbst trat nie öffentlich
in Erscheinung; wann immer er in den Medien auftauchte, tat er das mit einem
Foto, das ihn als Mann in mittleren Jahren zeigte. Ein Alter, das er längst
hinter sich gelassen hatte.
Allmen war ihm noch nie begegnet, aber er wusste jetzt,
dass sie in etwa die gleiche Statur hatten. Das frische Hemd passte ihm, nur
der
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