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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allmen und die Libellen
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der Hand des legendären
Emile Galle.
    Allmen hatte keine Sorge, erwischt zu werden. Sie waren
allein im Haus, das hatte er sich von Jojo schon in der Halle versichern
lassen. Also nahm er sich Zeit für einen kleinen Rundgang und verweilte ein
wenig länger vor einer Gruppe besonders schöner Stücke.
    Es waren fünf Schalen in der Form von weit geöffneten,
breiten Kelchen. Ihr Glas war ganz oder halb opak in cremigen Gold-, Rost-,
Eis-, Schnee-, Zimt-, Silber-, Lakritze- und Kakao-Tönen. Jede von ihnen
schmückte eine große Libelle, jede mit goldenen Augen, jede anders, aber jede
so, als wäre sie mitten im Flug von diesem Glas eingeschlossen worden, als es
noch flüssig war.
    Alle fünf Stücke waren formvollendet und von
ehrfurchtgebietender Schönheit.
    Allmen riss sich von dem Anblick los, löschte das Licht
und ging zurück ins Bad. Er versuchte es mit der anderen Tür und fand die Toilette.
    Er lag auf dem Rücken und starrte einäugig an die von der
Nachttischlampe schwach erleuchtete Stuckdecke. Jojo, die er für sich wieder
Joelle nannte, schnarchte immer noch. Schon zweimal hatte er versucht, sie auf
die Seite zu drehen. Das erste Mal hatte sie aufgestöhnt, kurz zu schnarchen
aufgehört und sich wieder auf den Rücken gedreht.
    Das zweite Mal hatte sie ihn abgeschüttelt und dabei sein
rechtes Auge mit der Ellbogenspitze getroffen. Er hatte aufstehen und das Auge
mit kaltem Wasser behandeln müssen, um zu verhindern, dass es zuschwoll. Jetzt
lag er da mit einem nassen Waschlappen auf dem Auge und verwünschte Joelle,
Lauber und sich selbst.
    Er wäre längst gegangen, wenn es nicht noch immer in
Strömen geregnet und er gewusst hätte, wo er sich befand. Aber während der
Fahrt hierher war er so mit der Abwehr von Joelle beschäftigt gewesen, dass er
nicht auf den Weg geachtet hatte.
    Sein Handy zeigte kurz nach drei, als er sich entschloss,
dennoch zu gehen. Irgendwo in diesem Haus mussten ein Briefumschlag, eine
Zeitschrift oder sonst etwas mit einer Anschrift zu finden sein.
    Er sammelte seine Kleider ein und ging ins Bad.
    Das Auge sah nicht gut aus. Es war gerötet und etwas
angeschwollen.
    Während er sich anzog, wuchs seine Wut auf die Schlampe, wie
er sie jetzt schon in Gedanken nannte. Er blickte in den Spiegel, sah sich in
seinem zerknitterten, lippenstiftverschmierten Hemd, sah das geschwollene Auge
und fühlte sich wie ein ohne Lohn zum Teufel gejagter Gigolo.
    Anstatt zurück ins Schlafzimmer und von dort aus über den
Korridor das Haus zu verlassen, öffnete er die Tür zur Glassammlung und
wischte mit einem trockenen Waschlappen beide Klinken sauber. Auch den
Schalter reinigte er und machte Licht. Ohne Zögern ging er auf die Vitrine mit
den Libellenschalen zu. Sie war verschlossen, aber der Schlüssel steckte.
    Er öffnete sie und nahm eine der Schalen heraus. Die
schönste, wie er fand. Auf dem milchigen Grund zeichnete sich karamelbraun die
Libelle ab, deren Leib schwarz war wie ein Vanillestengel und deren Flügel die
Farbe und Zeichnung von Schildpatt trugen. Der Stiel der Schale bildete an
seiner dicksten Stelle einen saphirblauen Wulst, der in vier regelmäßigen
Abständen von großen weißmelierten Glasperlen unterbrochen war. Das Stück lag schwer
und kühl in Allmens Hand. Er verschloss die Vitrine wieder und wischte seine
Abdrücke weg.
    Zurück im Badezimmer wickelte er seine Beute in eines der
schwarzen Handtücher, löschte das Licht und ging zurück ins Schlafzimmer.
    Sie lag jetzt auf der Seite und hatte aufgehört zu
schnarchen. Allmen ging auf Zehenspitzen zum Ausgang. Als er sich auf der Höhe
des Bettes befand, richtete sie sich auf und stammelte: »Was, was, was?«
    Allmen erstarrte.
    Dann sagte sie: »Ach so« und ließ sich ins Kissen
zurückfallen.
    Sie lag wieder auf dem Rücken. Allmen wartete, bis ihr
Schnarchen zu vernehmen war. Leise verließ er das Zimmer.
    Seine Gastgeberin hatte in der Eile die Lichter brennen
lassen, Korridor und Treppenhaus waren hell erleuchtet. Auf den Stufen ihre
halsbrecherischen Stilettos, im Zentrum der Halle, wie ein erlegtes grünes
Pelztier, ihr Nerz, nicht weit davon entfernt sein Kaschmirmantel, nicht so
elegant hingegossen wie der Pelz, sondern in sich zusammengesunken wie ein
leerer Sack.
    Allmen suchte bei der Garderobe, dort, wo in solchen
Häusern normalerweise die Post lag, nach einem Briefumschlag mit einer Adresse.
Nichts.
    Die Türen, die zu den anderen Räumen führten, waren alle
geschlossen. Er wagte nicht, sie

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