Suter, Martin
dieser Zusatzkondition einverstanden. So scharf war
die Firma auf die repräsentative Villa Schwarzacker.
Carlos arbeitete seither für seinen Chef gegen Kost und
Logis. Im Giebel des Gärtnerhauses befanden sich zwei Personalmansarden und
ein winziges zweites Bad für deren Bewohner. Je nach Allmens finanzieller Lage
erhielt er darüber hinaus einen Zuschuss in Form von größeren oder kleineren
Trinkgeldern.
Allmen trank seinen Tee aus und stellte die Tasse zurück
auf den Nachttisch. Normalerweise streckte er sich danach noch einmal aus, um
ein Stündchen oder zwei weiterzudösen. Denn in diesen Morgenstunden waren die
Träume am intensivsten. Und er hatte am Morgen keine Termine, außer dem mit
sich selbst um zehn Uhr dreißig im Viennois.
Aber an diesem Morgen stand er gleich nach dem Tee auf. Er
beeilte sich im Bad, kleidete sich mit der gewohnten Sorgfalt und betrat kurz
nach acht die Bibliothek. Milchiges Licht fiel in den großen Raum, vom Rasen
stieg der Nebel auf und verhüllte die Konturen der Parkbäume.
Auf dem Teppich vor einer der Regalwände waren ein paar
Bücher gestapelt. Allmen hatte sie noch in der Nacht ausgeräumt, um Platz für
die Glasschale zu machen. Das nasse schwarze Handtuch hatte er eigenhändig in
den halbvollen Abfalleimer geworfen, den Müllsack herausgenommen, zugebunden
und für Carlos vor die Tür gestellt, der ihn dann im Container entsorgen würde.
Da stand sie nun, seine Libellenschale, im vom Nebel
gefilterten Morgenlicht. Noch zauberhafter, noch geheimnisvoller als in der
Vitrine ihres rechtmäßigen Besitzers.
Ein angemessener Liebeslohn, fand Allmen.
Er setzte sich an den Flügel, steckte sich die leere
Zigarettenspitze zwischen die Lippen und schluderte ein bisschen in seinem
Songbook-Repertoire herum. Ein Sonnenstrahl drang durch die Nebeldecke, fand
den Weg durch die Baumkronen und ließ für einen kurzen Moment in der gläsernen
Bibliothek eine dünne Staubsäule aufleuchten.
Allmen war zufrieden mit sich und der Welt.
Auf allen Tischen der Nach-zehn-Uhr-Gäste standen um
diese Zeit »Reserve«-Schilder, um die spärliche Laufkundschaft an die wenigen
für sie vorgesehenen Tische zu verbannen.
Allmen saß behaglich bei seinem zweiten Kaffee und las
unaufmerksam in der in einen hölzernen Halter gespannten Zeitung. Die
Besprechung der Premiere von Madame Butterfly war eine
Hymne. Erst jetzt fiel ihm auf, wie wenig er von der Aufführung mitbekommen
hatte.
Aus dem Augenwinkel bekam er mit, dass ein neuer Gast
eingetreten war und sich drei Tische weiter an den älteren Herrn wandte, der
dort wie immer vier Stühle besetzt hielt.
Allmen sah von der Zeitung auf, um die Szene zu
beobachten. Der neue Gast hatte ihm den massigen Rücken zugewandt und stand
wie angewurzelt vor dem alten Stammgast. Dieser hatte angewidert begonnen,
einen Stuhl frei zu machen. Gianfranco war an der Kaffeemaschine beschäftigt
und bekam nichts mit von dem unerhörten Zwischenfall, sonst wäre er zu Hilfe
geeilt.
Jetzt drehte sich der Mann um und setzte sich breitbeinig.
Dörig!
Allmen spürte wieder die Beklemmung in der Brust, die mit
plötzlichen Erinnerungen an verdrängte Unannehmlichkeiten verbunden war. Er
nickte Dörig erschrocken zu, aber der reagierte nicht. Saß nur da in seinem zu
engen zugeknöpften Mantel und starrte ihn an. Als lebende Zahlungsaufforderung.
Allmen wandte sich wieder der Zeitung zu, aber er spürte
den unverwandten Blick seines Gläubigers. Er bekam mit, wie Gianfranco an den
Tisch trat und sich nach einem kurzen, halblauten Wortwechsel wieder
entfernte, sich an der Lavazza zu schaffen machte und kurz darauf mit einer
Tasse zurückkam.
Dörig reagierte nicht, rührte die Tasse nicht an, starrte
einfach weiter.
Allmen hob die Zeitung etwas an und linste ab und zu über
deren Rand. Die Unannehmlichkeit blieb sitzen. Und mit ihr die Beklemmung in
der Brust.
Zwölftausendvierhundertfünfundfünfzig Franken. So viel
hatte er früher pro Nacht für Hotelsuiten ausgegeben, für ein Flugticket, für
eine Einladung in einem anständigen Restaurant. Und jetzt machte ihm der
Betrag Beklemmungen, Herzklopfen, Schweißhände.
Letzte Frist Mittwoch. Was war heute? Montag?
Jetzt kam Bewegung an den Tisch. Gianfranco stand dort,
kassierte offenbar. Entfernte sich. Verächtlich.
Dörig stand auf und verließ das Cafe. Allmen sah ihm durch
das Schaufenster nach.
Als hätte Dörig seinen Blick gespürt, blieb er brüsk
stehen und wandte den Kopf.
Allmen
Weitere Kostenlose Bücher