Suter, Martin
Kragen war etwas weit. Joelle hatte es ihm gegeben mit den Worten: »Behalte
es, mein Vater hat Hunderte davon.«
»Ich kann doch kein Hemd tragen mit den Initialen K. H.«,
hatte Allmen abgewehrt. »Ich habe meine eigenen.«
»Dann schmeiß es weg. Oder benutz es als Schuhlappen.«
Das Licht des späten Vormittags war nicht günstig für
Joelies Make-up. Es verband sich nicht mit ihrem Teint wie am Vorabend in der
Goldenbar, der Oper, der Limousine und dem Schlafzimmer. Es hob sich von ihm
ab. Auftrag, Struktur, Pigmentierung und Übergänge waren erkennbar wie bei
einem aus zu großer Nähe betrachteten Gemälde. Trotzdem sah sie gut aus. Das
lag an ihrer Ausstrahlung, der Ausstrahlung eines gutgelaunten, vielleicht
glücklichen Menschen. Allmen hegte den Verdacht, dass dies an ihm liegen
könnte. Nicht unbedingt an seiner Person, eher an der Tatsache, dass er am
nächsten Morgen noch da war. Vielleicht eine Erfahrung, die Jojo nicht oft
machte.
Während des ganzen Frühstücks waren immer wieder längere
Gesprächspausen entstanden. Die Art von Pausen, die bei Paaren sonst Geständnissen,
Ankündigungen und Liebeserklärungen vorausgehen. Allmen hatte der Stille jedes
Mal durch eine gezielte Banalität die Bedeutungsschwere genommen. Diesmal
griff er zu: »Schönes Haus, übrigens.«
Jojo reagierte mit jedem Mal unwirscher auf Allmens
rhetorische Sabotageakte, wie eine Katze, der man die Maus verscheucht. »Für
meinen Geschmack zu viel Jugendstil. Ich kann das Zeugs nicht mehr sehen. Aber
mein Vater ist süchtig danach. Er kann stundenlang dasitzen und eine Vase
hypnotisieren. Zwei Frauen haben ihn deswegen verlassen. Ich kann es ihnen
nicht verdenken.«
»Schönheit betrachten hat etwas Meditatives«, bemerkte Allmen
versonnen. Die Bemerkung ließ bei Joelle wieder eine dieser bedeutungsvollen
Pausen entstehen.
Allmen sah auf die Uhr. »Ich bestelle jetzt ein Taxi, ich
habe einen Termin.« Er holte das Handy aus seiner Brusttasche, aber Joelle
legte ihre Hand auf die seine.
»Ich fahr dich.«
»Sehr lieb, aber nicht nötig.«
Sie ließ ihre Hand auf seiner liegen und sah ihm in die
Augen. »Doch, nötig. So habe ich dich noch ein bisschen länger.«
Das war nun überhaupt nicht nach Allmens Plan. Damit
verließ er das Haus zwar nachweislich mit leeren Händen, aber er brauchte diese
dann auch, um während der ganzen Fahrt im Fond der Limousine, unter den
verstohlenen Blicken des Chauffeurs im Rückspiegel, Jojos Angriffe abzuwehren.
Allmen war kein Autofahrer. Er hatte es zwar einmal
gelernt und besaß immer noch einen klein zusammengefalteten, an den Falzen
kaum mehr lesbaren Fahrausweis, aber selbst zu steuern hielt er für ähnlich
herabwürdigend wie die Verrichtung jeglicher Arbeit, die jemand anders gegen
Bezahlung besser erledigen würde.
Aus diesem Grund besaß er auch kein eigenes Auto. Aber bei
dem, was ihm in dieser Nacht bevorstand, konnte er das Autofahren nicht
delegieren. Deshalb saß er in diesem schwarzen Smart, den er sich von einem
Bekannten geliehen hatte.
Persönlich ein Auto zu steuern war lächerlich genug, ohne
dass das Auto selbst noch ein Witz sein musste. Und es so zu tun, wie er es tat
- mit Hohlkreuz und krampfhaft ans Steuer geklammert -, war eine einzige
Blamage. Aber er hatte keine Wahl gehabt, der Smart war das einzige Fahrzeug
gewesen, das der Bekannte, ein Studienkollege, der es nach dem Abbruch des
Studiums zu einer eigenen Werbeagentur gebracht hatte, an diesem Abend entbehren
konnte. »Du wirst es nicht mehr hergeben wollen«, hatte er ihm versichert, als
er ihm den Schlüssel übergab und in seinen Porsche Cayenne stieg.
Jetzt fuhr er, nach einer demütigenden Fahrt durch das
Stadtzentrum, auf der endlosen Straße am See entlang. Joelle hatte ihm die
Adresse der Villa gegeben. Er hatte sie darum gebeten, als sie vor dem Tor zur
Villa Schwarzacker hielten. Sie schloss daraus, dass er sie wieder besuchen
wollte, ließ von ihm ab und bestand auch nicht darauf, noch kurz mit ihm
reinzukommen. »Aber deine Villa zeigst du mir ein andermal«, hatte sie beim
Abschied gesagt.
Die Nacht war trocken, aber kohlschwarz. Noch immer hielt
eine kompakte, tiefliegende Wolkendecke die Stellung über Stadt und Umgebung.
Es war zwei Uhr morgens, kaum Verkehr. Längst war er an der Nummer 200 vorbei. Die Grundstücke wurden immer größer, die
Nummerierung immer willkürlicher. Das letzte Schild, das er hatte entziffern
können, war 276. Seither
war er an mehreren
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