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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allmen und die Libellen
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konnte es nicht vermeiden, dass sich ihre Augen
begegneten.
     
    Ein Esstisch mit sechs Stühlen, beengt von einer Art-deco-Anrichte
in schwarzem Schleiflack, nahm den größten Teil des Wohn-Esszimmers ein. Im
anderen drängte sich eine Sitzgruppe aus einem Sofa und zwei Sesseln (zwei
weitere lagerten in der Waschküche) um ein Clubtischchen, alles ebenfalls
amerikanisches Art deco, dem früher eine seiner vielen Sammelleidenschaften
gegolten hatte.
    Schon wieder roch es nach Carlos' Lieblingsessen, als Allmen
den Raum betrat. Es war Carlos' Art zu sagen, dass er Haushaltsgeld benötigte.
    Als das Essen auf dem Tisch stand, wurde Allmen auch klar,
wie dringlich die Mahnung war. Die Hackplätzchen fehlten, das Guacamole auch.
Es gab nur Bohnen und Tortillas, das Menü der Armen in Guatemala.
    Er verzehrte es ohne Kommentar. Auch Carlos kommentierte
es nicht. Aber die Art, wie er es servierte, mit dem besten Geschirr und
Besteck auf gestärktem Damast, war vielsagend genug.
    Während der Siesta fand Allmen keinen Schlaf. Er starrte
an die Decke und versuchte, das Bild von Dörig zu vertreiben, dieser geballten
Ladung Aggressivität. Allmen war klar, dass er ihn mit nichts beschwichtigen
konnte. Außer mit Geld. Aber das bisschen Geld, über das er noch verfügte,
brauchte er zur Vertuschung seiner Situation. Er konnte es sich auf keinen Fall
leisten, damit Schulden zu bezahlen.
    Eine Viertelstunde bevor er normalerweise aus der Siesta
erwachte, stand er auf, ging in die Bibliothek und setzte sich an den
Stutzflügel, Neuwert um die achtzigtausend Franken.
    Er schlug erst ein paar seiner schlampigen Akkorde an,
holte sich dann aber Noten aus dem Bücherregal und spielte, erst stockend,
dann immer sicherer, eine Nocturne von Chopin. Er hatte das Gefühl, er habe
noch nie so gut gespielt. Als spiele er um sein Leben. Oder zumindest um das
seines Flügels.
    Nach den letzten Takten blieb er noch einen Moment in
Gedanken verloren sitzen, legte sorgfältig den Filz über die Tasten, schloss
den Deckel und ging zu der Stelle der Bücherwand, wo die Libellenschale stand.
Auch im goldenen Licht dieses späten Herbstnachmittags war sie von
unvergleichlicher Schönheit.
    Was sie wohl wert war? Bestimmt mehr als alles, was er
Tanner bisher angeboten hatte. Sein Gefühl sagte ihm, dass er sich mit diesem
Stück in eine ganz andere Liga begeben hatte.
    Hatte Joelles Vater den Diebstahl bemerkt und angezeigt?
Und falls ja, würde die Polizei dann nicht Fahndungsfotos an den Kunst- und
Antiquitätenhandel verschicken?
    Er tat etwas, das er sich vorgenommen hatte, niemals zu
tun: Er rief Joelle an.
    »Immer noch ganz allein in dem großen einsamen Haus?«,
fragte er, als sie sich meldete.
    Sie deutete es falsch und antwortete: »Auch wenn mein
Vater hier wäre, könntest du vorbeikommen. Er ist nicht prüde.«
    Als er nicht gleich eine Antwort darauf wusste, fügte sie
rasch hinzu: »Aber er ist nicht da.«
    Allmen hatte erfahren, was er wissen wollte, und suchte
nach einer Möglichkeit, das Gespräch unverbindlich zu beenden. Aber so leicht
kam er nicht davon.
    »Männer«, sagte sie, »die am nächsten Tag noch da sind und
am übernächsten anrufen, haben es entweder auf mein Geld abgesehen oder sich in
mich verliebt. So, wie du wohnst, kann es nicht das Geld sein.«
    Es wäre taktisch unklug gewesen, ihr zu widersprechen. Er
ging so weit, sie für den nächsten Abend ins Promenade einzuladen. Dabei war
dort seine Kreditsituation momentan mehr als angespannt.
     
    »Ich glaube, ich habe da was Besonderes für dich, Jack.«
    Allmen öffnete den Koffer und entnahm ihm ein
Frotteebündel, wickelte die Libellenschale aus und stellte sie auf die polierte
Tischplatte.
    Tanner sah die Schale an, dann Allmen, dann wieder die
Schale und sagte: »Setz dich.«
    Allmen ließ sich auf dem Sofa nieder und schlug die Beine
übereinander.
    Tanner nahm vorsichtig die Schale vom Tisch, betrachtete
sie von allen Seiten, berührte sie zart mit den Fingerspitzen und sah Allmen
an.
    »Galle«, sagte dieser.
    Tanner zog ironisch die Brauen hoch: »Was du nicht sagst.«
    »Ich habe früher mal ein bisschen Glas gesammelt«,
erklärte Allmen.
    Tanner blickte von der Schale auf, musterte Allmen, senkte
den Blick wieder auf das Objekt und murmelte: »Früher mal ein bisschen Glas
gesammelt. Soso.«
    Es kehrte wieder Stille ein im Raum. Allmen hörte das
behäbige Ticktack, das von einer Pendeluhr mit reich intarsiertem Zifferblatt
stammte. Tanner steckte sich

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