Suzanna
Holt nahm sich bereits die nächste Kiste vor.
Suzanna ging hinaus und dachte wehmütig an Biancas Kinder. Der kleine Sean, der kaum laufen konnte. Ethan, der später der Vater ihres Vaters wurde. Und Colleen, die jetzt unten war und sicher irgendetwas an Coco auszusetzen hatte. Wie diese Frau jemals ein süßes kleines Mädchen …
Ein kleines Mädchen, dachte Suzanna und blieb im ersten Stock stehen. Das Mädchen, das älteste Kind, musste fünf oder sechs gewesen sein, als die Mutter starb. Suzanna machte einen Umweg und klopfte an die Tür ihrer Großtante.
»Herein, verdammt!«
»Tante Colleen.« Suzanna trat ein. Amüsiert stellte sie fest, dass die alte Frau in einen Liebesroman versunken war. »Tut mir leid, dich zu stören.«
»Warum? Den anderen tut es doch auch niemals leid.«
Suzanna biss sich auf die Zunge. »Ich dachte … In jenem Sommer, dem letzten Sommer, warst du da noch im Kinderzimmer bei deinen Brüdern?«
»Ich hatte mein eigenes Zimmer am anderen Ende des Ostflügels. Da war das Kinderzimmer, dann Nannys Zimmer, dann das Kinderbad und drei Zimmer, die für Kinder von Gästen bereitstanden. Ich hatte das Eckzimmer gleich an der Treppe.« Sie blickte finster in ihr Buch. »Im nächsten Sommer zog ich in eines der Gästezimmer. Ich wollte nicht in dem Raum schlafen, den meine Mutter für mich dekoriert hatte, und wissen, dass sie es nie wieder betreten würde.«
»Es tut mir leid. Als Bianca dir sagte, ihr würdet weggehen, kam sie da in dein Zimmer?«
»Ja. Sie ließ mich ein paar von meinen Lieblingskleidern aussuchen und packte sie ein.«
»Danach … Ich nehme an, sie wurden wieder ausgepackt?«
»Ich trug diese Kleider nie wieder, wollte es gar nicht. Ich schob den Koffer unter mein Bett.«
»Verstehe.« Dann gab es also noch Hoffnung. »Danke, Tante Colleen.«
»Mittlerweile bestimmt ziemlich mottenzerfressen«, grollte Colleen, als Suzanna wieder hinausging. Sie dachte an ihr Lieblingskleid aus weißem Musselin mit einer blauen Satinschärpe, stand seufzend auf und trat auf die Terrasse hinaus.
Die Dämmerung kommt früh, dachte sie. Ein Gewitter zog herauf. Sie roch es im Wind, sah es in den wilden Wolken, die bereits die Sonne verdeckten.
Suzanna eilte wieder die Treppe hinauf. Die Sandwiches mussten warten. Sie stieß die Tür zu Colleens altem Zimmer auf, das auch zum Abstellraum gemacht worden war. Es war jedoch kleiner als das Kinderzimmer und nicht so vollgestellt.
Sie hielt sich nicht mit Kisten und Kartons auf, sondern schob sie beiseite und suchte unter dem Bett. Ihr Herz stockte, als sie auf einen alten Koffer stieß. Sie öffnete ihn und fand sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagene Kleider. Aber keine Mädchenkleider – und keine Smaragde.
Da das Licht bereits schwach wurde, stand Suzanna auf und wollte zur Tür, Holt und eine Taschenlampe holen, bevor sie weitermachte. In der Dämmerung stieß sie sich hart das Schienbein. Mit einer Verwünschung blickte sie nach unten und sah den kleinen Koffer.
Er hatte einst weiß geschimmert, war inzwischen jedoch stumpf von Alter und Staub. Er war beiseite geschoben worden, und man hatte Kartons darauf gestellt, die ihn zusammen mit einem verblassten Teppich fast verdeckten. Suzanna kniete sich in dem düsteren Licht hin, legte den Koffer frei und hob den Deckel an.
Der Duft von Lavendel war womöglich schon seit Jahrzehnten darin versiegelt. Sie nahm das erste Kleid aus weißem Musselin heraus, das vom Alter elfenbeinfarben geworden war, umgürtet mit einer verblassenden blauen Satinschärpe. Suzanna legte es behutsam beiseite und zog das nächste heraus. Sie stieß auf Beinkleider und Bändchen, hübsche Schleifen und ein Nachthemd mit Spitzenbesatz. Und dann – auf dem Grund, neben einem kleinen Stoffbären – eine Kassette und ein Buch.
Suzanna legte ihre zitternde Hand an die Lippen und griff dann nach dem Buch.
Biancas Tagebuch, dachte sie, als Tränen ihre Augen verschleierten. Sie war ganz aufgeregt, als sie die erste Seite aufschlug.
Bar Harbor Maine
12. Juni 1912
Ich sah ihn auf den Klippen oberhalb der Frenchman Bay …
Suzanna stieß unsicher den Atem aus und legte das Buch in ihren Schoß. Das durfte sie nicht allein lesen. Es musste auf ihre Familie warten. Ihr Herz hämmerte, als sie die Kassette aus dem Koffer nahm. Sie wusste es, bevor sie sie öffnete. Sie fühlte die Veränderung in dem Raum, das Vibrieren der Luft. Als die erste Träne über ihre Wange lief, hob Suzanna den Deckel und
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