Sweetgrass - das Herz der Erde
bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Und dann machte er sich auf den Weg aus der drückenden Hitze des Dachbodens in die kühlere Luft seines Elternhauses. Dabei fühlte er sich so alt und lahm wie Blackjack.
Er fand seine Mutter in ihrem Zimmer, sie saß am Fenster und las. Sie hob den Kopf, als er hineinkam, und über die Ränder ihrer Lesebrille hinweg sah sie ihm mit blauen hoffnungsvollen Augen entgegen. Aber als sie sah, wie dreckig er war, wie ernst er schaute und wie er die Schultern hängen ließ, wurde ihr Lächeln unsicher.
“Hast du nichts gefunden?”, fragte sie.
Er kam näher. “Doch.”
Sie machte ein verständnisloses Gesicht. “Ach so? Aber es ist nicht das, was du dir erhofft hast?”
“Doch, schon, glaube ich”, antwortete er leidenschaftslos. “Ich werde es den Anwälten zeigen, damit sie es genau unter die Lupe nehmen, aber ich glaube, wir haben da etwas. Wir haben noch eine Chance.”
Sie sah ihn verwirrt an. “Aber das wolltest du doch, oder? Warum schaust du dann so traurig?” Ihre Augen verengten sich, während sie ihn forschend ansah. Einladend klopfte sie neben sich aufs Bett. “Komm, setz dich. Erzähl es mir.”
Morgan holte tief Luft und sah sich im Zimmer um. Die Uhr tickte vernehmlich. Das Zimmer war hübsch, hell und luftig, und aus den Fenstern konnte man über die Sümpfe blicken. Unter einem Porzellanhaken, an dem Mama Junes Morgenmantel aus Chenille hing, standen ihre Hausschuhe. An der hinteren Wand stand ein großer Schrank mit handgemaltem Blumenmuster. Unter einem Mansardenfenster stand ihr kleiner Schreibtisch, auf dem in einem Silberrahmen ein Familienfoto stand, das vor vielen Jahren aufgenommen worden war, kurz vor Hamlins Tod. Er sah aus, als wäre er ungefähr achtzehn Jahre alt. Morgan rechnete zurück. Sein Bruder war im April 1958 geboren worden. Der Brief stammte vom September 1957. Seine Hände wurden feucht.
Sie wirkte plötzlich anders. Der Nimbus, mit dem er sie immer umgeben hatte, war nicht mehr unbefleckt. Er fühlte sich betrogen. Es kam ihm so vor, als würde er sie gar nicht mehr kennen.
Er saß unbeweglich am Bettrand, seiner Mutter direkt gegenüber.
“Morgan, irgendetwas stimmt doch nicht.”
Morgan hob seine rechte Hand und streckte sie seiner Mutter entgegen.
Sie starrte auf seine Hand, in der er mehrere Bögen hellrosa Briefpapier hielt. Mama Junes Augen weiteten sich vor Schreck, als sie das Papier erkannte. Ihr Mund öffnete sich, und sie stieß einen hilflosen Laut aus.
Für einen Moment sprach keiner der beiden. Er sah die Bestürzung in den Augen seiner Mutter aufflackern, dann Erschrecken und schließlich Schmerz, während sie die unschuldig aussehenden Blätter anstarrte, die ihr tiefstes, persönlichstes Geheimnis enthielten.
“Du hast sie also gelesen, Morgan.” Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
“Ja, das habe ich.”
Mit großen Augen schlang sie die Arme um ihren Leib.
Morgan trommelte nervös mit den Fingern auf das Papier. Seine Fingernägel hatten schwarze Ränder von dem Schmutz auf dem Dachboden. Mama June hielt den Atem an und starrte auf das nervöse Zucken an seiner Wange.
“War Onkel Tripp Hamlins Vater?”, fragte er plötzlich.
“Oh mein Gott”, entfuhr es ihr. Gegen diese eine Frage hatte sie sich seit siebenundvierzig Jahren gewehrt. Sie zog die Schultern zusammen und machte sich ganz klein, um seinem unerbittlichen Blick zu entgehen.
Fieberhaft überlegte sie, was sie antworten konnte. Sie konnte es einfach abstreiten. Aber Morgan war nicht dumm. Er hielt den Beweis in den Händen und konnte sich ausrechnen, dass sie ihn anlog. Sie konnte ihm sagen, dass ihn das nichts anging, ihn beschimpfen, weil er ihre persönlichen Sachen durchwühlt hatte, und ihn hinauswerfen. Doch diese Möglichkeit zog sie nur kurz in Betracht. Hatte sie nicht lange genug geschwiegen?
Herr, lass mich dieses eine Mal kein Feigling sein, betete sie.
Sie sah ihn wieder an und nickte beinahe unmerklich. Siebenundvierzig Jahre des Schmerzes rannen ihre Wangen hinab.
Morgan wirkte erschrocken, zutiefst getroffen. “Wann hätte ich davon erfahren sollen?”
Sie ließ die Schultern sinken, als sie bemerkte, wie verletzt er war. “Ich weiß es nicht.”
“Wahrscheinlich gar nicht”, stieß er anklagend hervor.
“Wenn es nach mir gegangen wäre, nein. Ich glaube nicht, dass ich es jemals gesagt hätte. Diese Briefe sind privat und nicht dafür bestimmt, dass du sie liest. Oder sonst
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