Sweetgrass - das Herz der Erde
hatte das Grüppchen sich unterhalten und miteinander gelacht. Elmore führte sie durch das dichte Gehölz zu einer Lichtung. Je näher sie ihr kamen, desto ruhiger wurde die Gruppe. Bald war nur noch das Geräusch ihrer Schritte in der Stille zu vernehmen, und Mama June kam es vor, als näherten sie sich einem großen Tempel aus Licht. In ihrer Vorstellung standen die Geister der Toten auf, um sie zu begrüßen. Sie betraten heiligen Boden.
Als sie den Wald verließen, kamen sie auf eine Anhöhe, von der sie die sonnenbeschienene Lichtung überblickten. Mama June stand da und staunte. Hier, auf einem Landstreifen zwischen Wald und Sumpfland, war alles leuchtend rosa von Sweetgrass, das in voller Blüte stand. Eine sanfte Brise blies durch das Gras und ließ es aussehen wie ein rosa wogendes Meer.
Zwischen den Grasbüscheln konnte sie einige zerbrochene Grabsteine ausmachen. Sie hatte noch nie einen schöneren Ort für die ewige Ruhe der Toten gesehen.
Nona kam zu Mama June und hakte sich bei ihr unter. Sie sahen sich an und spürten beide die starke Bindung zwischen einander. Nona wusste, dass sie und Preston entschieden hatten, Sweetgrass zu verlassen und in ein Pflegeheim zu ziehen. Sie wusste auch, wie schwer dieser Abschied allen fallen würde.
“Ich weiß, dass dir so viel im Kopf herumgeht. Aber ich sage immer, dass man die wichtigsten Entscheidungen am besten auf einem Friedhof trifft”, sagte Nona. “Da hat man die richtige Perspektive.”
Nona lächelte und drückte ihren Arm, dann ging sie wieder zu dem Archäologen und den anderen.
Mama June blieb mit Preston zurück. Zusammen beobachteten sie, wie die kleine Truppe über das Feld marschierte, um die Geheimnisse des Grabfeldes in Augenschein zu nehmen. Elmore, Nona, Maize, Grace und Kwame führten die Gruppe an. Morgan, Kristina, Nan, Harry und Chas folgten. Und in ungewohnt keckem Schritt bildete Blackjack den Abschluss. Sein schwarzer Schwanz wedelte durch die Luft wie ein Taktgeber.
Ja, dachte Mama June, unsere Kinder werden um uns trauern, wenn wir nicht mehr da sind.
Sie stellte sich neben Prestons Rollstuhl und legte ihre Hände auf seine Schultern. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest.
Es war ein schmerzlich-schöner Augenblick für sie beide. Mama June blickte über die Felder und fand, dass ihr Aufbruch im Herbst gut zu ihrem Leben auf Sweetgrass passte. Preston und sie hatten eine Schwäche für den Frühling geteilt und auch für die schwülen, glücklichen Tage des Sommers mit seinen Stürmen. Und nun schauten sie auf ihre Kinder und Freunde an diesem gesegneten Ort und brachten die Ernte ihres gemeinsamen Lebens ein. Mama June seufzte, als sie an die kommende Jahreszeit dachte, den strengen, unerbittlichen Winter. Doch auch diese Jahreszeit würde ihre schönen Momente für sie bereithalten.
Sie sah den Mann an, mit dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Prestons Augen waren so strahlend blau wie der Himmel und sein Haar so weiß wie die Wolken über ihnen. Er saß aufrecht und sah stolz über sein geliebtes Land, für das er so viele Jahre gesorgt hatte – so wie sein Vater und sein Großvater vor ihm. Und nun würde sein Sohn die Arbeit fortführen.
Und genauso würde Maize sich um diesen heiligen Ort kümmern, an dem ihre Vorfahren ruhten und von dem das kostbare Sweetgrass stammte, das auch für die kommenden Generationen blühen würde.
Mama June strich über Prestons Schulter. Er wandte den Kopf und suchte ihren Blick.
“Wir sollten nicht traurig sein. Weißt du, eines Tages werden wir nach Sweetgrass zurückkehren. Das Küchenhaus wird genau richtig sein für uns. Schließlich haben wir dort unser gemeinsames Leben begonnen. Es ist nur passend, wenn wir es auch da beschließen. Aber erst einmal, mein Schatz, müssen wir uns ein bisschen Ruhe und Frieden für uns selber gönnen, nur du und ich. Irgendwo, wo du wieder zu Kräften kommst, mit mir an deiner Seite.”
Mama June beugte sich vor, legte ihre Wange an Prestons Gesicht und flüsterte: “Alles für
uns.”
– ENDE –
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