Sweetgrass - das Herz der Erde
Tag, und es ist noch nicht mal drei Uhr”, sagte sie. Als Mama June nicht antwortete, fügte sie hinzu: “Ich kann hier notfalls auch den Rest des Tages verbringen. Ich hab’s nicht eilig, und Gott weiß, ich hab’s mir verdient.”
Die beiden Frauen saßen in ihren Schaukelstühlen und sprachen kein Wort. Die Ruhe draußen ließ sie kurzzeitig den Lärm der Familienprobleme, der sie den ganzen Tag umgeben hatte, vergessen. Mama June hörte langsam auf zu weinen und ließ die friedvolle Stille auf sich wirken. Mit einer echten Freundin an der Seite konnte man auch schweigen.
Mama June wandte den Kopf und sah ihre Freundin der vergangenen siebenundvierzig Jahre an. Die starken Konturen von Nonas Gesicht enthüllten, dass sie eine charaktervolle Frau war. Mama June wusste, dass sie Nona alles erzählen konnte und dass sie nie etwas davon weitererzählen würde. Außer Preston war sie die einzige Seele, die jedes von Mary Junes Geheimnissen kannte.
“Morgan weiß Bescheid”, sagte Mama June leise.
Nona brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie damit meinte. Sie wusste, dass Morgan auf dem Dachboden herumgewühlt hatte, aber es gab zu viele Geheimnisse in dieser Familie, als dass sie hätte sagen können, auf welches er da oben gestoßen war. Doch als sie Mama Junes Gesicht sah, wusste sie, dass es das große Geheimnis sein musste.
“Es war vielleicht an der Zeit”, antwortete sie.
Mama Junes Gesicht verzog sich. “Es ist nie an der Zeit, dem eigenen Sohn das Herz zu brechen.”
“Was ist denn passiert?”
Nach und nach brachte Mama June Nona auf den neuesten Stand. Es war ein Vormittag der Erkenntnisse und ein Nachmittag des Streits gewesen. Ein Tag mit besonders ausgeprägten Höhen und Tiefen. Nonas mitfühlende Augen glänzten, wenn sie nickte oder auf Einzelheiten erstaunt oder zustimmend reagierte.
“Ich habe mich noch nie so alt gefühlt”, sagte Mama June schließlich.
“Du
bist
alt”, gab Nona zurück.
“Na, du musst gerade reden!”
“Ich weiß, dass ich alt bin”, erwiderte Nona lächelnd. “Aber ich beschwere mich nicht darüber.” Sie lehnte sich zurück und schaute über die Sümpfe. Ihr Zwiegespräch funktionierte auf eine ganz besondere Weise – sie verstanden einander ohne große Worte. “Der hatte Feuer unter dem Hintern, das steht mal fest”, sagte sie, weil sie wusste, dass beide darüber nachdachten, wo Morgan stecken mochte. “Hoffentlich tut er nichts Unüberlegtes.”
“Es gibt Tage, da erkenne ich meinen eigenen Sohn nicht wieder”, meinte Mama June. “Von allen meinen Kindern war er immer ein ganz besonderes Rätsel.” Sie schaukelte vor und zurück und dachte darüber nach. “Bei Nan habe ich mich immer ausgekannt.”
“Bei ihr ist es ja auch leicht. Sie war die Prinzessin”, erwiderte Nona trocken.
“Das war sie wirklich. Aber sie hatte ein gutes Herz und wollte die anderen immer glücklich sehen. Und sie ist ein kluges Mädchen. Nur hat sie eine Schwäche für schöne Dinge und hat ein paar Dummheiten gemacht, um sie zu bekommen.”
“Dieses Kind hatte eine besondere Vorstellung von seinem Leben.”
“Ja, aber nun lebt es dieses Leben nicht mehr.”
Nona schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. “Das ist nicht gut. Sie muss zu Ende bringen, womit sie begonnen hat. Es hat keinen Zweck, sich im Haus ihrer Mutter zu verstecken.”
Mama June schaukelte ein bisschen stärker, weil ihr die Vorstellung nicht gefiel, Nan zu ihrem Mann zurückzuschicken. “Sie braucht ein bisschen Zeit für sich alleine”, verteidigte sie sie. “Außerdem ist das hier schließlich ihr Zuhause. Wo hätte sie denn sonst hingehen sollen?”
“Jedenfalls nicht an Mamas Rockzipfel.”
“Sie versteckt sich doch nicht. Sie lässt sich ein paar Dinge durch den Kopf gehen. Nan wird Hank verlassen.”
“Ach, du lieber Gott …”
“Das wird hart für sie sein, von den Jungs ganz zu schweigen. Sie wird uns brauchen.”
Nona schaukelte weiter, antwortete jedoch nicht. Sorge stand auf ihrem Gesicht.
“Und Hamlin”, fuhr Mama June fort. “Er war leicht zu durchschauen. Er war ein Draufgänger. Impulsiv und rastlos wie sein Vater”, fügte sie sanft hinzu. Ihr Gesicht verdüsterte sich, und sie senkte den Blick. “Ich werde nie erfahren, ob einer der beiden irgendwann dieser Rastlosigkeit entwachsen und erwachsen geworden wäre und ob etwas Besonderes aus ihnen geworden wäre. Aber Morgan …”
“Morgan
ist
etwas Besonderes”, sagte Nona, als wolle
Weitere Kostenlose Bücher