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Sweetgrass - das Herz der Erde

Sweetgrass - das Herz der Erde

Titel: Sweetgrass - das Herz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Alice Monroe
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gestorben waren. Und es gab auch eines von Granddad und Grandmama Clark. Auf einem anderen lächelte Tante Adele. Sie sah jung und zerzaust aus, und Morgan fand, dass sie eine echte Schönheit gewesen war.
    Eine Fotografie erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah sich das Schwarzweißfoto genauer an, auf dem ein gut aussehender junger Mann in Jeans zu sehen war, der die Ärmel seines T-Shirts bis zum Bizeps aufgerollt hatte. Er hatte pechschwarzes Haar und ein breites einnehmendes Lächeln. Zuerst hielt Morgan ihn für seinen Bruder Hamlin. Doch der Mann war älter, und der Stil der Kleidung passte nicht. Morgan drehte das Foto um und las auf der Rückseite den Namen: “Tripp, Blakely’s Bluff”, in der Schrift seiner Mutter, und das Datum 1957. Er hatte bisher nur wenige Fotos von Onkel Tripp gesehen. Diesen Mann hatte immer schon ein Geheimnis umgeben, und über seinen Tod wurde nicht gesprochen. Er konnte sich erinnern, dass die Leute manchmal hinter vorgehaltener Hand darüber geredet hatten, nachdem Hamlin gestorben war. Auch sein Onkel Tripp war bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen, und Morgan hatte sich oft geärgert, wenn die Leute Vergleiche gezogen hatten.
    Er legte die Fotos in das Köfferchen zurück. Das war nur ein blöder Zufall gewesen, dachte er jetzt, wie damals auch schon. Eine grausame Wendung des Schicksals.
    Allmählich verlor er das Interesse und stöberte nur noch ein bisschen weiter durch die Sachen, weil die Hitze langsam zu unangenehm wurde. Nur die Papiere schaute er sich noch kurz an. Darunter waren mehrere Bögen rosa Briefpapier, wahrscheinlich von Nan, als sie ein Teenager gewesen war. Er lächelte zärtlich, als ihm einfiel, was für salbungsvolle Briefe sie vom College nach Hause geschrieben hatte. Er überflog ein paar Zeilen.
    Liebster Tripp
,
    ich kann kaum glauben, dass wir uns schon seit einem Monat nicht mehr gesehen haben. Ich vermisse dich, vermisse dich, vermisse dich! Wann kommst du mich besuchen? Es ist ja nicht so weit, und wir werden schon etwas Besonderes daraus machen. So wie immer
.
    Morgan erstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Das war nicht von Nan. Das konnte nicht sein. Als er genauer hinsah, erkannte er die Handschrift seiner Mutter.
Liebster Tripp?
Nicht Preston? Er schaute auf das Datum – 1957. Das Jahr, in dem seine Eltern geheiratet hatten.
    Sein Mund wurde trocken, und er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Er durfte das hier nicht lesen. Immerhin war das sehr persönlich. Er zögerte. Hatte seine Mutter ihm nicht ausdrücklich erlaubt, alles auf dem Dachboden zu durchsuchen? Er sah über seine Schulter, mit unsicherem Blick, weil er sich nicht wohl fühlte bei der Sache. Aber etwas nagte an ihm. Was war das für eine Geschichte? Welche Geheimnisse gab es noch, die er nicht kannte?
    Er senkte den Kopf und begann zu lesen.
    * * *
    Morgan zog seine Knie eng an seine Brust, und seine Arme hingen wie leblos darüber. Um ihn herum lagen verstreut die Briefe. Er spürte die unerträgliche Hitze nicht mehr. Er fühlte überhaupt nichts mehr. Er kam sich vor wie eine dumme, bedeutungslose Mücke, die unglückseligerweise geradewegs in ein Spinnennetz von Lügen und Betrug geflogen war. Er konnte sich nicht rühren, so als hätte eine Spinne ihn gebissen und ihn mit ihrem Gift gelähmt.
    Doch trotz der Leere fühlte er einen hämmernden Schmerz, der ihm sagte, dass er am Leben war, auch wenn er am liebsten tot gewesen wäre. Er kannte dieses Gefühl. Genauso hatte er empfunden, nachdem sein Bruder ertrunken war.
    In solchen Momenten hatte er sich immer an einsame Orte zurückgezogen, wie die Scheune oder den Dachboden, wo er sich vergraben konnte, die Augen geschlossen, und auf den erlösenden Schlaf gehofft hatte. Wenn ihn dagegen Albträume geplagt hatten, war es schlimmer gewesen – viel schlimmer. Dann hatte er zu lesen begonnen. Er hatte gelesen, was immer ihm in die Hände gefallen war, und hatte nicht mehr aufgehört. Die Bücher waren seine Zuflucht gewesen.
    Aber nun war er zu alt, um sich irgendwo zu verstecken. Der Wahrheit musste man sich stellen, ob man wollte oder nicht. Er hatte gewusst, in was er seine Nase gesteckt hatte, als er beschlossen hatte, die Briefe zu lesen. Niemand hatte ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Er hatte es aus freien Stücken getan.
    Er stand auf, und sofort wurde ihm schwindelig. Weiße und schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Er drückte mit zwei Fingern auf seinen Nasenrücken und atmete tief ein,

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