Sweetgrass - das Herz der Erde
ihre Reise in die Vergangenheit angetreten hatte, hatte sie sich geschworen, den Schleier wegzuziehen und den Tatsachen ihres Lebens offen ins Gesicht zu sehen. Sie wollte sich nichts mehr vormachen und vor nichts mehr davonlaufen.
Mary June hob den Kopf und blickte hinaus auf die Landschaft, die ihr Zuhause war. Schemenhaft konnte sie die großen Lebenseichen und die Kiefern ausmachen, erkannte Halme von Schlickgras und sah, wie sich das Mondlicht in den Wellen des Flusses brach. Was für eine wunderbare Nacht, mit sanfter, weicher Luft.
Sie schloss ergeben die Augen und erinnerte sich an Abende wie diese, die sie in Tripps Armen verbracht hatte.
Im Sommer 1957 war sich Mary June Clark sicher, wer sie war und was sie vom Leben erwartete.
Mary June war die einzige Tochter von Will und Martha Clark. Sie war eine gute Schülerin, hatte die besten Manieren und brachte ihre Eltern nie in Verlegenheit. Sie ging auf ein angesehenes Südstaaten-College, und wie die anderen Mädchen in ihrem Jahrgang auch hoffte sie, einen Ehemann zu finden und zu heiraten, bevor sie einundzwanzig Jahre alt war.
Tripp Blakely war nicht gerade das, was ihre Eltern sich für sie vorgestellt hatten. Er mochte gut aussehen und aus einer der besten Familien der Gegend stammen. Aber Tripp forderte ganz bewusst und auf eine sehr aufregende Art die guten Sitten und Traditionen des amerikanischen Südens heraus, in denen er aufgewachsen war. Mary June dagegen kam Tripp ungemein stark vor und doch verletzlich, schön und wild.
In den ersten zehn Tagen nach ihrer Rückkehr nach Sweetgrass half Mary June im Stall mit den Schafen, wann immer sie gebraucht wurde. Preston war nett und aufmerksam und hatte immer ein Auge auf sie. Aber er nahm sie nicht mehr früh am Morgen zum Fischen mit oder spielte am Abend mit ihr Karten. Er stand abseits wie ein höflicher Verehrer, der mitten im Tanz abgeklatscht worden war.
Mary June ignorierte Prestons Qualen und Adeles Missbilligung. Sie bemerkte nicht, wie Mrs. Blakely neugierig schaute und Nona sie verstohlen beobachtete. In diesem Sommer versank sie im Strudel ihrer Romanze mit Tripp.
Seine Geschwindigkeit raubte ihr den Atem. Ganz anders als Preston saß er nie zu Hause herum. Er wollte jede Nacht ausgehen. Die ersten Male kam Adele noch mit, doch dann entschied sie sich für ihren neuen Schwarm Richard. Sie gab sich keine Mühe zu verbergen, dass sie beleidigt war, weil Mary June nicht mit ihr und ihren Freunden ausging. Aus irgendeinem Grund verstand Mary June nicht, warum Adele so verärgert darauf reagiert, dass sie mit Tripp zusammen war.
Meistens trafen Tripp und Mary June ein paar seiner Freunde und fuhren dann in mehreren Autos über die Cooper River Bridge nach Charleston. Kein Abend war wie der andere, und dennoch ähnelten sie sich sehr. Die Freunde ließen sich einfach treiben. Manchmal hingen sie im Hampton Park herum und fütterten die Enten. Oder sie fuhren nach Shem Creek, nahmen ein Boot und fuhren im Hafen herum.
In schwülen Nächten fuhren sie in Tripps Cabrio durch die Gegend, manchmal bis zum Grand Strand, wo irgendwelche Bands Soul spielten. Sie vergnügten sich auf der Tanzfläche, die Jungs in Converse-Schuhen, die Mädchen in halblangen Röcken und flachen Schuhen, und tanzten zu den verführerischen Klängen der Strandmusik, ihre Drinks noch in der Hand.
Oder sie gingen zur Battery und setzten sich auf eine Parkbank, genossen die frische Luft und knabberten Erdnüsse, bis sich die Schalen zu ihren Füßen häuften. Wenn sie Hunger hatten, aßen sie in einem der kleinen Restaurants oder holten sich bei einem Straßenverkäufer ein Eis und bummelten über die King Street. Sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl, wenn ihr Rock um ihre Waden schwang, während sie ziellos durch die Gegend streiften. Bei Woolworth oder im Kress Department Store machten sie sich einen Spaß daraus, die Unmengen an Spielzeug und anderen Waren zu durchforsten, die in den Regalen und Auslagen waren, und dabei dumme Sprüche zu machen und wie Kinder zu kichern.
Doch sie waren keine Kinder mehr. Mary June war neunzehn, Tripp und seine Freunde waren vierundzwanzig. Sie hatten entweder gerade das College hinter sich oder waren wie Tripp gleich nach der Highschool eingezogen und in den Koreakrieg geschickt worden. Sie hatten viel gesehen in den Jahren, die sie von zu Hause weg gewesen waren. Eine feurige Glut loderte hinter ihrer Mir-ist-alles-egal-Fassade. Wenn sie in einem Restaurant saßen,
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