Symphonie der Herzen
Aufführung erlaubte. Schließlich aber war auch dieser Theaternachmittag irgendwann zu Ende, und alle Darsteller versammelten sich zum Schlussapplaus und einer letzten Verbeugung. Erst, als auch wirklich der allerletzte Vorhang gefallen war, folgte Lu den Mädchen in die Garderobe, wo die meisten von ihnen sich atemlos und verschwitzt auf die Stühle fallen ließen.
Keuchend zerrte sich Kitty ihr Kostüm vom Leib und hängte es sorgsam auf einen der Bügel. »Gütiger Gott«, raunte sie an Louisa gewandt. »Ich kann einen freien Abend wirklich gebrauchen.«
»Trotzdem danke ich Euch, Kitty. Ohne Euch wäre das alles nicht möglich.«
»Ist doch nicht der Rede wert«, winkte Kitty ab. »Ich mache es ja in erster Linie für James. Für ihn würde ich alles tun.«
Derweil zogen auch die meisten anderen Mädchen ihre Kostüme aus; allerdings machten sie sich nicht die Mühe, wieder in ihre Alltagskleidung zu schlüpfen. Stattdessen hüllten sie sich in seidene Morgenmäntel, um ihre Nacktheit zu verbergen, während ein etwa zwölfjähriger Bursche reihum ging, um Geld einzusammeln. Er besorgte das Essen für all jene, die sich zwischen den Vorstellungen ein wenig stärken wollten.
Eine halbe Stunde später war er schon wieder da und reichte den Mädchen je eine heiße Portion fish and chips ; man aß es einfach mit den Fingern, und das Ganze war eingewickelt in simples Zeitungspapier. Louisa, die sich ebenfalls eine Portion bestellt hatte, war außer sich vor Begeisterung. Auch sie aß mit den Fingern und war der festen Überzeugung, dass sie noch niemals in ihrem ganzen Leben etwas so Köstliches gegessen hatte.
Unterdessen drehten sich die Unterhaltungen der Mädchen fast ausschließlich um deren Verehrer. Für die meisten von ihnen war es selbstverständlich, sexuelle Gefälligkeiten gegen Geschenke oder Essen oder andere nützliche Dinge auszutauschen. Die, die es am besten getroffen hatten, hatten sogar feste Galane, die ihnen die Miete bezahlten.
Ob James wohl auch Kittys Miete bezahlt?, überlegte Lu. Allein die bloße Vorstellung, dass auch Abercorn zu diesen wollüstigen
Mäzenen zählte, war für sie regelrecht zermürbend. Kurz darauf aber schalt sie sich selbst dafür, dass sie ihm so etwas überhaupt zutraute, und verbannte jeglichen weiteren Gedanken in diese Richtung entschlossen aus ihrem Kopf.
Ungefähr eine Stunde vor Beginn der Abendaufführung zog Louisa ihr Kostüm an und setzte sich vor den Spiegel, um sich zu schminken. Unterdessen schien in ihrer Magengegend bereits ein ganzer Schwarm von Schmetterlingen zu wüten, so aufgeregt war sie und so voller Vorfreude. Schließlich, als sie mit ihrem Kunstwerk fertig war, warf sie noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel - und war zufrieden. Niemand würde sie in dieser Aufmachung als Lady Louisa Russell erkennen, noch nicht einmal ihre eigene Familie. Dieses Wissen verlieh ihr Selbstsicherheit, und über ihre Lippen breitete sich ein verschmitztes Lächeln.
Dann kam das Zeichen, dass sich gleich der Vorhang heben würde, und wie ein Blitz schien eine wahre Woge an Energie sie zu durchströmen. Abrupt sprang sie von ihrem Stuhl auf und konnte es kaum erwarten, ihre erste Vorstellung auf einer öffentlichen Bühne zu geben. Und obgleich Kitty zwar nicht die Primaballerina in den Reihen der Chormädchen war, marschierte Lu nun siegesgewiss voran. Noch ein letzter tiefer Atemzug, und schon berührten ihre Füße erstmals die Bretter, die die Welt bedeuten.
Konzentriert nahm sie ihre Pose ein, und ihre Nervosität schmolz dahin wie Eis im Sommer. Zudem erhob sich ihre klare helle Stimme schon während des ersten Liedes deutlich über die der anderen. Ihre Gesten waren anmutig, ihr Tanz war pure Perfektion, und überhaupt war ihre Darbietung sehr viel professioneller als die Darbietung des offiziellen Chors. Louisa lebte und atmete ihre Rolle und verschmolz am Ende regelrecht mit der Person, die sie darstellen sollte.
James Hamilton, der sich abermals unter das Publikum gemischt hatte, war geradezu fasziniert von Louisa. Ihre Schönheit und ihr Talent waren einfach atemberaubend. Und tief in seinem Inneren musste er sich eingestehen, dass es in der Tat eine Schande war, dass Lu wohl niemals eine professionelle Tänzerin und Chanteuse werden würde. »Ja, eine Schande ist es!«, seufzte er leise, denn Lu besaß wahrlich all das, was es brauchte, um ein echter Star zu sein.
Andererseits aber wollte er sie auch gar nicht erst mit anderen
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