Symphonie der Herzen
Haddo House. Das Gut und das gesamte Land gehören meinem Stiefvater Aberdeen. Irgendwann kam es ihm in den Sinn, sämtlichen Pächtern zu kündigen und ihre Häuser einfach abreißen zu lassen. Das Land wurde quasi dem Erdboden gleichgemacht, sodass Aberdeen dort noch mehr Schafe halten konnte. Tausende von Schafen, so weit das Auge reicht.«
»Und wer kümmert sich um die Tiere?«
»Niemand. Sie vegetieren dort einfach so vor sich hin. Jahr für Jahr ziehen sie über die kargen Hügelketten, wo sie meist bloß trockenes Heidekraut finden, und wenn die Winterstürme über das Land brausen, müssen sie eben zusehen, dass sie sich irgendwie gegenseitig wärmen. Aber, ehrlich gesagt, geht es sogar diesen Schafen noch besser als jenen Menschen, die Aberdeen einfach ihrem Schicksal und dem Hunger überlassen hat.«
»Kein Wunder, dass die Menschen ihn hassen.«
James nickte. »Aber lasst uns jetzt nicht mehr über Aberdeen reden. Ich möchte, dass Ihr glücklich seid.«
Und Louisa wiederum wollte, dass auch Abercorn lachte. »Aber ich bin doch glücklich«, kicherte sie verschmitzt. »Ich habe nun endlich meine erste Ballsaison hinter mich gebracht und kann noch immer stolz behaupten, dass ich mich nicht auf dem Heiratsmarkt habe verschachern lassen. Das ist doch wohl etwas, oder?«
Mit einem müden Lächeln schlang Abercorn den Arm um sie und drückte sie einmal fest an sich. Lu hielt den Atem an - gleich würde er sie bestimmt wieder küssen. Genau genommen wartete sie schon die ganze Zeit darauf, dass er sie küsste, und zwar gleich von dem Moment an, da sie den mondbeschienenen Garten betreten hatten. Doch dann zog er seinen Arm langsam wieder zurück; sehnsüchtig schaute Lu ihn einen flüchtigen Moment lang an.
Kurz darauf hob James sie von der Mauer herab, während er sich alle Mühe gab, seine Belustigung zu verbergen. »Kommt«, sagte er. »Wir müssen morgen früh aufstehen.«
Ihr irischer Teufel!, fluchte Lu im Geiste, bewahrte nach außen hin jedoch eisernes Schweigen.
Gute drei Tage später erreichten die müden Reisenden endlich Howick Hall. Glücklicherweise bot das Anwesen dank seiner großzügigen Ausmaße reichlich Platz für alle. Denn abgesehen von ihren zahlreichen Verwandten beherbergten die Greys während der parlamentarischen Sitzungspause auch stets zahlreiche Freunde.
Fröhlich hießen Hannah, die Schwester des Grafen Grey, und ihr Ehemann, Edward Ellice, die Russells willkommen. »Wir befinden uns übrigens auch gerade auf dem Weg nach Schottland«, erklärte sie Georgina. »Mein Mann und ich möchten uns dort nämlich gern ein Anwesen kaufen. Am besten nicht allzu weit von dem Euren entfernt.«
»Dann hoffe ich doch sehr, dass Ihr rasch fündig werdet. Wir würden uns wahnsinnig freuen, Euch als Nachbarn zu gewinnen. Ich liebe es ganz einfach, Gäste einzuladen.« Mit fröhlich blitzenden Augen schaute Georgina ihre Freundin an.
»Ist George denn nicht hier?«, war gleich das Erste, was Georgy fragte, als man sich zum Abendessen an die lange Tafel begab.
»Nein, mein Liebes«, entgegnete Mary Grey, während sie Georgy neugierig musterte. »Er ist vom Marineministerium erst kürzlich zum Leutnant ernannt worden und wartet nun auf seinen ersten Einsatz.«
Georgy war offensichtlich enttäuscht, als sie dies hörte.
Unterdessen stellte die Gräfin die Gäste einander vor. »Ihr kennt doch sicherlich meinen ältesten Sohn, Henry, und seine Frau, Mary.« Henry war natürlich ebenfalls Parlamentarier und hatte den Abgeordnetensitz für Northumberland inne. »Und Charles Bennet, Henrys Freund, habt Ihr wahrscheinlich auch schon kennengelernt, oder? Lord Ossulston vertritt in London jedenfalls die Region von North Northumberland.«
Sofort spitzte Georgy interessiert die Ohren. »Lord Ossulston, ich freue mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen. Euer Vater ist der Graf von Tankerville, nicht wahr?«
»So ist es, Mylady.« Der junge Lord nickte einmal höflich, wandte seinen bewundernden Blick dann aber wieder Louisa zu.
Georgy stupste ihre Schwester verstohlen in die Seite. »Lade ihn ein, nachher mit uns einen Spaziergang durch den Garten zu machen«, flüsterte sie.
Gehorsam säuselte Louisa also nach dem Dessert: »Lord Ossulston, bitte entschuldigt uns jetzt. Meine Schwester und ich möchten uns gerne noch ein bisschen die Beine vertreten; die tagelange Kutschfahrt und das viele Sitzen waren doch sehr anstrengend.«
Prompt erhob Charles Bennet sich und bot sich als Begleitung an.
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