Symphonie des Lebens
eine –«, sagte sie, als er rauchte.
»Seit wann rauchst du?«
»Seit heute.« Sie setzte sich hoch und ließ sich Feuer geben. Dann sprang sie aus dem Bett und lief, nackt wie sie war, im Zimmer hin und her. Leclerc verfolgte sie mit sehnsüchtigen, aber müden Blicken. »Hast du schon darüber nachgedacht, daß ich einen neuen Paß brauche?«
»Mit einem anderen Namen –«
»Natürlich.«
»Das wird teuer sein, Chérie.«
»Wieviel?«
»Vielleicht 5.000 Francs.«
»Weißt du, wo man einen bekommt?«
»Nein, aber ich werde es erfahren.«
Sie stand rauchend am Fenster und sah durch die Gardine hinaus auf die Straße. Ihre langen blonden Haare flossen über ihre Schultern, auf ihrer weißen Haut sah er die Spuren seiner Fingernägel. Wie zerbrechlich sie aussieht, dachte er atemlos. Niemand, der sie so sieht, ahnt, welche Glut in diesem Körper versteckt ist. Sie kann einen Menschen verbrennen …
Der Doppelsinn lag plötzlich wie Galle in seinem Mund. Die Zigarette schmeckte nicht mehr, er drückte sie aus.
»Ich habe Hunger«, sagte er völlig unpathetisch. »Du nicht?«
»Ja. Wir sollten etwas einkaufen gehen. Oder sollen wir in einem Bistro essen?«
»Laß uns erst gehen«, sagte er.
Eine halbe Stunde später standen sie unten bei der Pensionswirtin und gaben den Schlüssel ab. Die alte, würdige, dicke Dame sah sie stumm an, nahm den Schlüssel, räusperte sich und ging in ihr Hinterzimmer. Bevor sie verschwand, versäumte sie nicht, einen deutlichen Blick auf eine aufgeschlagene Zeitung zu werfen, die auf der Theke lag.
»Was hat sie?« fragte Carola und griff nach dem französischen Blatt. Die dritte Seite war nach oben gefaltet. Groß leuchtete ein Foto der strahlenden Carola Donani dem entsetzten Leclerc entgegen. Und darunter der Text: »Die Frau des berühmten Dirigenten B. Donani starb bei einem Autounfall in Berlin. In ihrem Sportwagen verbrannte sie.« Dann folgte ein genauer Bericht vom Unglücksort.
Carola legte die Zeitung zurück auf die Theke. Ihr schönes Gesicht hatte wieder die Härte, die Leclerc schon in der Unglücksnacht erschreckte.
»Sie hat uns erkannt«, sagte sie leise. »Es war ein Irrtum, zu glauben, heute sei unser erster Tag.«
»So wird es uns überall gehen …« Leclercs Jungengesicht war voller Hilflosigkeit. »Es war ein Fehler, Chérie. Ich habe es gleich gesagt. Du bist zu bekannt, um unerkannt weiterzuleben …«
Carola schüttelte den Kopf. »Komm –«, sagte sie. »Wollen wir jetzt im Niemandsland stehenbleiben? Wir sind ausgebrochen, um unser Paradies zu finden, unser eigenes Paradies. Wir müssen weiter –«
Sie kauften für den Abend ein. Brot, Butter, Käse, Cervelatwurst, einen Liter Rotwein. Und noch etwas kaufte Carola: Zeitungen. Sie kaufte alle Zeitungen, die der Kiosk hatte. Beladen wie ein Zeitungsausträger, schleppten sie sich nach Hause und schlossen sich ein. Dann sahen sie die Anzeigen durch, Seite um Seite.
»Hier!« sagte Leclerc plötzlich und zeigte mit dem Finger auf eine Anzeige der Zeitung ›Le Provençal‹. »Das könnte etwas sein –«
Carola Donani beugte sich über die Schulter Leclercs. Während sie las, nagte sie mit spitzen Zähnen an seinem Ohrläppchen.
»Dr. René Lombard –«, las sie. »Chirurgische Privatklinik für kosmetische Operationen –«
»… Nasen- und Ohrenkorrekturen, Mammaplastiken und operative Entfernung von Fettansatz –«, las Leclerc weiter. »Rue de Frontière. Marseille –« Er faßte Carolas Kopf und zog ihn zu sich. »Du … du willst das wirklich tun?«
»Ich will ein neuer Mensch sein«, sagte sie leise. »Ein Mensch, nur für dich. Ich will nichts, nichts mehr haben, was mich an früher erinnert. Ich will mich selbst nicht mehr im Spiegel sehen und mich als Carola Donani erkennen. – Wir fahren nach Marseille.«
»Und wann?«
»Morgen schon.« Sie richtete sich auf und breitete die Arme weit aus. »Jeder Tag, der vorbeigeht, ist verloren. Wir müssen mit jeder Stunde geizig sein. Es wird nie soviel Stunden geben, die ausreichen, dich zu lieben –«
Jean Leclerc schloß die Augen. Ich habe einen Vulkan aufgerissen, dachte er. Nun gehe ich unter in dieser Glut …
*
In diesen Tagen wurde im fernen Hamburg eine Vermißtenanzeige abgeheftet und in das Fach ›Unerledigte Fälle‹ gelegt.
Vermißt wurde seit vier Wochen die 24jährige kaufmännische Angestellte Julia Saboldt. Sie hatte blonde Haare, blaue Augen, war 1,64 m groß, schlank und trug ein geblümtes Sommerkleid.
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