Symphonie des Lebens
Fischerboote. Leclerc hob schnuppernd die Nase.
»Es stinkt nach Fisch.«
»Im Nebenhaus ist eine Trankochanlage«, sagte die Vermieterin. »Dafür haben meine Zimmer den Vorteil, nicht kontrolliert zu werden.« Sie blinkerte wissend mit den Augen. »Nehmen Sie's, Monsieur?«
»Ja«, sagte Leclerc schwach, als er Carola nicken sah. »Zunächst für drei Monate.«
»Vorauskasse, bitte.«
»Selbstverständlich.«
Dann saßen sie an dem verhältnismäßig großen Fenster und blickten über den Teil des Hafens vor ihrem Haus. Die Sonne ging unter, die Boote leuchteten rot und blau, das Meer violett. Carola hatte den Arm um Leclercs Nacken gelegt und streichelte mit der Linken seine gefalteten Hände.
»Ich war schon viermal in Marseille«, sagte sie leise. »Nie habe ich Zeit gehabt, den Sonnenuntergang zu sehen. Um diese Zeit war Donani schon nervös: Ich mußte ihn beruhigen. Was keiner weiß … vor jedem Konzert hatte er ein furchtbares Lampenfieber. Man sah es ihm nie an, immer war er der Souverän, aber in Wirklichkeit hatte er jeden Abend Angst wie ein kleiner Junge vor der Impfung.«
»Warum erzählst du das alles?« fragte Leclerc dumpf. Der Fischgeruch beleidigte sein ästhetisches Empfinden, er machte ihm übel, erzeugte Brechreiz. Zeit seines Lebens hatte er keinen Fisch gemocht … nun mußte er neben einer Trankocherei hausen.
»Weil ich so glücklich bin –«
»Glücklich?«
»Jetzt habe ich Zeit, viel Zeit, den Sonnenuntergang zu sehen. Mit dir … dir ganz allein … Ist das nicht ein unermeßliches Glück?«
»Natürlich, Chérie.« Er küßte flüchtig ihre Augen und sah hinaus auf das schwarzgolden werdende Meer. »Wie schön muß der Sonnenuntergang zu sehen sein auf der Terrasse des ›Atlantic‹.«, sagte er mit deutlicher Bitterkeit.
Carola lächelte und zog seinen Kopf zu sich.
»Geduld, mein Liebling. Geduld. Haben wir nicht schon viel erreicht in diesen wenigen Tagen …?«
Leclerc nickte. Was sollte er auch sagen?
»Willst du nicht spielen?« fragte sie plötzlich. Leclerc schob ihren Kopf verblüfft von sich weg.
»Spielen? Was denn?«
»Deine Geige.«
»Jetzt? Hier?«
»Ja.« Sie nickte, ihre Augen hatten einen leidenschaftlichen Glanz. »Spiel mir etwas vor … irgend etwas … nur schön muß es sein, verliebt, glücklich … Ich will jetzt, jetzt hören, wie lieb du mich hast …«
Leclerc hob wie resignierend die Schulter, klappte den Geigenkasten auf und drückte das Instrument an das Kinn. Verrückt, dachte er. Solche Situationen liebt Großmütterchen im Roman. Der Geiger und die geflüchtete Geliebte … ein Drama aus dem Leben von Amalie v. Grevenbroich. Wer es liest, schüttelt mit mildem Lächeln den Kopf … und ich sitze jetzt wirklich hier, an einem Fenster neben einer Trankocherei, umgeben von Fischgestank, vor mir das Meer und der dreckige Hafen, und soll spielen. Das ist doch lächerlich … lächerlich … Er setzte die Geige wieder ab. Carola sah ihn mit geneigtem Kopf an.
»Du willst nicht …?«
»Es ist doch absurd, Chérie –«, sagte er heiser.
»Aber ich bitte dich doch so darum …«
Mit verkniffenen Lippen preßte er die Geige wieder an das Kinn und begann zu spielen. Eine Chaconne von Sarasate, wild, wirbelnd, ekstatisch.
Er spielte sie nicht zu Ende. Nach den ersten zehn Takten klopfte es heftig an die Zimmertür. Leclerc brach die Chaconne ab.
»Ruhe!« schrie eine Stimme. »Verdammt noch mal, Ruhe!« Es war die Hauswirtin, ihre Stimme klang schrill und bösartig. »Wer soll das Gewimmer denn ertragen?! Noch einmal – und Sie fliegen …«
Tapsende Schritte entfernten sich über den langen Flur. Jean Leclerc legte mit einem bitteren Lächeln seine Geige zurück in den Kasten.
»Des Volkes Stimme –«, sagte er gepreßt. »Dein Paradies, Chérie, gleicht mehr einer Vorhölle …«
»Dann laß uns träumen …« Sie zog ihn wieder zu sich, und sie saßen wieder aneinandergedrückt und starrten hinaus auf das Meer. Als die Nacht über die Wellenkämme zog und die Masten der Schiffe und Fischerboote wie entlaubte Baumstämme gegen den fahlen Himmel ragten, hob sie den Kopf. Mit ganz klarer, aller Romantik fremder Stimme, nüchtern wie eine Zeitansage im Radio sagte sie in die Stille des Zimmers hinein:
»Morgen gehe ich zu Dr. Lombard –«
Die Privatklinik des Chirurgen Dr. René Lombard lag etwas außerhalb Marseilles in einer stillen Vorortstraße. Sie bestand aus einer kleinen Villa, die man um die Jahrhundertwende in einen
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