Symphonie des Lebens
nach Hause. In das Hotel von Mrs. Kinley –
*
Für Carola hatte die Welt aufgehört, von der Sonne erleuchtet zu sein. Der Himmel, das Meer, die grünen Hügelhänge, die Weinberge, die Felsen, der Strand waren grau, schmutzig wie jahrelang nicht gewaschene Gardinen.
Nachdem sie aus ihrer langen Ohnmacht erwacht war, hatte wie wieder am Fenster gesessen und mit der inneren Kälte eines Menschen, der mit allem abgeschlossen hat und nur noch körperlich, aber nicht mehr seelisch lebt, genau den Ablauf der nächsten Stunden und Tage festgelegt. Es gab für sie kein Zurück mehr, aber es gab auch keine Zukunft. Sie hatte ihr Leben für eine Leidenschaft eingesetzt und dieses Spiel um die Illusion Liebe verloren. Sie hatte an den Bestand der Gefühle geglaubt und nicht bemerkt, daß Jean Leclerc in ihr nur eine für ihn nützliche Abwechslung gesehen hatte, die in dem Augenblick für ihn sinnlos und eine Belastung wurde, in dem er erkannte, daß er mit Carola das für ihn Wertloseste besaß: nur eine liebende Frau.
Hatte sie es nicht erkannt, oder wollte sie es nie sehen? Diese Frage legte sich Carola rücksichtslos vor, und sie gab sich die klare Antwort: Ich habe es immer gefühlt, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich habe meinen Mann und die Kinder verlassen für einen Lumpen, dessen Schäbigkeit ich in Gold kleidete. Jeder vernünftig Denkende wird mich für irr halten … ich war es auch. Wer kann einen Verdurstenden, der einen Brunnen erreicht, davon überzeugen, daß er nur wenige Schlucke trinken darf?
Für Carola war es nach der Trennung von Jean Leclerc klar, wie ihr Weg aussehen würde: Er führte in das große Vergessen. Es war die einzige Konsequenz, die ihr übrigblieb. Sie hatte auch keine Kraft mehr, weiterzuleben. Das Gefühl der Schuld, das nun alles in ihr beherrschte, war so fordernd, daß es sie Überwindung kostete, nicht sofort, in dieser Stimmung von Todessehnsucht, alles hinter sich zu lassen.
Ein einziger Gedanke in ihr war stärker, ein Gedanke, der nun zu spät kam, um noch etwas an ihrem Leben zu ändern. Sie wollte noch einmal ihre Kinder wiedersehen … nur von weitem, nur einen Blick noch auf das, was sie zurückgelassen hatte, um dann endgültig zu gehen. Sie wollte sich selbst mit diesem Anblick bestrafen … hier die Kinder, sorglos spielend, jeden Sonntag hinausgehend zum Friedhof und am Grab einen Blumenstrauß niederlegend – und dort die heimlich lebende Mutter, die Mutter mit einem anderen Gesicht, die alles von sich geworfen hatte für den Traum, nur der Liebe leben zu können. Wer konnte das verstehen? War es überhaupt möglich, das zu begreifen? Carola schüttelte den Kopf. Es war nicht verständlich. Was sie getan hatte, war so ungeheuerlich, daß es nur den einen Ausweg gab … den Weg aus der Welt, in die sie nicht hineingehörte.
In den nächsten zwei Tagen handelte Carola konsequent. Sie gab die Villa an den Vermieter zurück, sie packte die Koffer, sie löste ihr Bankkonto auf, sie kaufte sich die Flugkarte nach München und bestellte ein Zimmer in einem Gasthof in Starnberg.
Noch einmal sah sie Jean Leclerc wieder. Auf der Promenade von Cannes traf sie ihn am Arm einer rotblonden, hübschen Frau. Sie gingen aneinander vorbei, sie blickten sich an wie Fremde, grüßten sich nicht und drehten sich auch nicht nach einander um. Nicht einmal Haß oder Schmerz empfand Carola, als sie Jean an sich vorbeigehen ließ. Im Gegenteil, plötzlich wurde ihr die jüngste Vergangenheit noch unverständlicher, noch rätselhafter, noch bedrückender. Ich muß irr gewesen sein, dachte sie und setzte sich auf eine der weißen Bänke unter den Palmen. Jeder, der Jean Leclerc ansieht, weiß, was er von ihm zu halten hat. Nur ich habe es nicht gesehen … bis heute. Oder doch? Wollte ich blind sein, bin ich vor meiner inneren Stimme immer auf der Flucht gewesen?
Bis auf zwei Koffer ließ sie alles zurück, ja, sie überlegte, warum sie überhaupt diese Koffer mitnehmen sollte? In drei oder vier Tagen brauchte sie keine Kleider mehr, keine Wäsche, keinen Morgenmantel, keine Kosmetiktasche, keine Schuhe oder Schmuck. Das letzte, taschenlose Hemd, das man ihr überstreifen würde, hatte Platz in ihrer Handtasche. Aber auch das brauchte sie nicht mitzunehmen – es wurde gestellt.
Schließlich reiste sie doch mit den beiden Koffern ab. Mit der Bahn fuhr sie bis Genua, von dort brachte sie ein Flugzeug nach Zürich, wo sie umstieg in die Maschine nach München-Riem. Sie hielt sich
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