Symphonie des Lebens
erhitzten Backen, in hellgrauen Lederhosen und weißen, leuchtenden Blusen.
Carola lehnte sich gegen das Gittertor und hielt sich an den Eisenstäben fest. Gott, hilf mir, dachte sie. Ich habe nicht die Stärke. Ich spüre, wie ich umfalle, ich kann sie nicht ansehen wie fremde Kinder. Gott, mein Gott … es sind ja meine Kinder … meine Kinder –
Wie durch einen Schleier sah sie Erna Graudenz schneller näher kommen, sah Alwine und Babette auf dem Weg, sah ihre erstaunten Blicke, mit denen sie die fremde Frau am Eingang des Hauses betrachteten, sah, wie sie näher kamen.
»Guten Tag, Tante«, sagte die kleine Babette. »Hier wohnen wir –«
Alwine nickte. Mit ihren acht Jahren benahm sie sich wie eine kleine Dame. Sie machte einen Knicks und musterte Carola.
»Wollten Sie zu uns? Es ist niemand da, nur wir. Papi ist in München in der Oper.«
Carola wollte etwas sagen … ihre Lippen öffneten sich, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle. O wenn ich doch schreien dürfte, dachte sie. Wenn ich schreien dürfte: Ich bin eure Mutter! Erkennt ihr mich denn nicht? Ja, ich sehe anders aus, eure Mutti war blond, sie hatte andere Augen, andere Brauen, andere Ohren, eine andere Nase, ein anderes Kinn … aber ich bin es, glaubt es mir doch, ich bin es. Ich bin zurückgekommen, ich … ich …
Sie würden es nicht glauben, sie würden weglaufen, sie würden sich vor mir fürchten, vor der fremden Tante, die behauptete, ihre tote Mutti zu sein, wo sie doch genau wissen, daß Mutti auf dem Friedhof liegt. Carola lehnte sich gegen das Eisentor. Ja, ich bin tot, jetzt sehe ich es, dachte sie. Es wird nie möglich sein, den Kindern zu sagen, daß ich ihre Mutter bin. Ich habe an diesem Morgen endgültig alles verloren … ich wußte es im voraus – ich wollte es nur nicht wahrhaben.
Erna Graudenz kam mit großen Schritten näher. Sie musterte kritisch und mißbilligend die fremde Dame am Eingang der Villa. Wie eine Autogrammbitterin sah sie nicht aus, aber es war alles möglich. Nicht nur junge Mädchen schwärmten Donani an.
»Kommt hierher, Kinder!« rief sie. »Babett! Alwinchen, hörst du nicht?«
»Lassen Sie doch die Kinder«, sagte Carola schwach. »Sie sind so nett –«
»Sie möchten zu Herrn Donani?« fragte Erna Graudenz geradeheraus. »Er ist nicht da. Und er empfängt auch keine Besuche.«
»Nein. Ich wollte nicht zu ihm. Ich bin hier zur Erholung. Man erzählte mir in der Pension, daß hier Herr Donani wohnt … da wollte ich nur einen Blick auf das Haus werfen …«
Ich kann sprechen, dachte sie bei diesen Worten. Ich kann ganze Sätze sprechen, und dabei ersticke ich fast, und das Herz ist ein riesiger, blutender Klumpen.
»Ach so.« Erna Graudenz lächelte, schloß das Tor auf, und die Kinder rannten die Auffahrt hinauf zum Haus. Halt! wollte Carola schreien. Bleibt doch! Bitte! Es sind die letzten Minuten … gönnt sie mir, seid nicht so grausam, trotz allem, was ich euch angetan habe. Ich will ja nur noch diese wenigen Sekunden, ich will euch streicheln, an mich drücken, euch fühlen, eure kleinen Körper, die aus mir gekommen sind – ich will euch nur noch einmal küssen –, und dann ist es ja zu Ende. Dann haben wir alle Frieden –
Fräulein Graudenz blieb im Tor stehen. »Leider darf ich Sie nicht hineinlassen. Herr Donani wünscht nicht, daß man in seiner Abwesenheit das Haus besichtigt. Es tut mir leid.«
Sie klappte den Flügel der Gittertür vor Carola zu und schloß die Tür ab. Carola umfaßte mit beiden Händen die Eisenstäbe und preßte ihre Stirn dagegen. Die Kinder rannten über die Wiese, ihre weißen Blusen leuchteten in der Sonne.
Alwine … Babette … dachte sie und schloß die Augen. Lebt wohl –
Erna Graudenz kam einen Schritt zum Tor zurück.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte sie. »Sie taumeln ja.«
»Oh! Ich … ich bin herzkrank. Manchmal kommt so eine Kreislaufstörung.« Carola wischte sich über die Augen. »Es ist schon wieder vorbei –«
Sie löste sich von dem Gittertor und ging den Weg zurück zur Straße. Sie ging gerade und wie eine aufgezogene Puppe, mit staksigen Beinen und hängenden Schultern. Erna Graudenz schüttelte den Kopf, drückte den Einkaufskorb an sich und ging den Weg zum Hauseingang hinauf.
Leute gibt es, dachte sie.
Drei Stunden lang schlich Carola um das Grundstück der Villa Alba. Als sie sicher war, daß die Kinder und Fräulein Graudenz beim Mittagessen waren, öffnete sie die Gartenpforte in der Hecke seitlich des Schwimmbeckens
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