syrenka
einem Grabstein hervorspähte. Im Inneren der Kirche war es kühl und Hester rutschte in eine Bank. Alles war vollkommen still, bis auf das leise Rascheln ihrer Kleidung, wenn sie sich bewegte, ein Geräusch, das durch die starre Atmosphäre und die Steinmauern verstärkt wurde und ihr das Gefühl gab, sie sei der einzige Mensch auf der Welt. Die Bibeln in den Kirchenbänken hatten grellgrüne Einbände aus Kunstleder mit goldglänzender Schrift. Ihre eigene war schwarz. An den Ecken bröckelte das Leder ab und gab den Blick auf mehrere Lagen feuchtes, ausgefranstes Bindematerial darunter frei. Hester schlug die beschädigte Bibel in ihrem Schoß auf und ließ sie im selben Augenblick mit einem Schrei fallen.
Sie wimmelte von winzigen Tierchen. Ihre gegliederten, fischartigen Körper krochen als eine einzige bläulich-silbrige Menge durcheinander. Das Buch besaß keine einzige Seite mehr. Wo einstmals Papier gewesen war, war jetzt nur noch eine Masse von Silberfischchen, die sich entweder entsetzliche Kämpfe lieferten oder sich paarten. Die Menge schwoll an, blähte sich auf und quoll über – ein wogendes Meer zuckender Körper und zitternder Tastorgane. Hester stand auf der Bank und schrie, während die Silberfischchen auf dem Boden ausschwärmten und in für ein so kleines Buch unglaublichen Mengen – Tausende und Abertausende Tiere – die Bänke hinaufhuschten und sich über die neueren Bibeln hermachten. Hester sprang in den Gang und rannte so schnell sie konnte Richtung Hintertür der Kirche. Ihr Herz raste und ihr war schlecht.
Kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatte, stellte sich ihr der Pastor in den Weg.
»Hiergeblieben!«, rief er energisch, die Hände auf beiden Seiten des Türrahmens.
Hester schloss die Augen. Sie duckte sich, stieß seinen Rockschoss beiseite und rannte unter seinem Arm hindurch nach draußen ins Sonnenlicht. Auf der Treppe, die den Burial Hill hinaufführte, nahm sie immer zwei Stufen auf einmal und lief zum Westausgang des Friedhofs. Nur einmal sah sie kurz zurück. »Bitte, Hester!«, hörte sie den Pastor im dunklen Türbogen rufen, aber da war sie schon oben und verschwand auf der anderen Seite des Hügels.
Linnie war wie vom Erdboden verschluckt – obwohl sie ihr großes Indianerehrenwort gegeben hatte.
Hester rannte nach Hause. Atemlos und in einem fort die juckenden Phantom-Silberfischchen von ihren Armen streichend, schwor sie, dass sie nie mehr Linnies Freundin sein wollte – bis in alle Ewigkeit!
Hester rieb sich die Augen und ließ die Hände sinken. Wie viele Jahre hatte sie nicht mehr an Linnie gedacht? Nach jenem Tag waren sie einander nie mehr begegnet. Hester hatte sogar ihren Schulweg geändert, um nicht mehr am Friedhof vorbeizukommen. Und ihre Familie war zehn Jahre lang nicht mehr in die Kirche gegangen – bis Nancy kürzlich den Kirchgang doch für unumgänglich erklärt hatte, um Sam ein bisschen zu bändigen, bevor er auf die Highschool kam.
Hester erinnerte sich, dass Malcolm am Sonntag nach dem Zwischenfall mit den Silberfischchen den gemeinsamen Heimweg der Familie – Sam lag schlafend auf seiner Schulter – schneller denn je anführte. Dabei schimpfte er über den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, und dass ihm eine Gemeinde, die einen ganz gewöhnlichen Ungezieferbefall zum Spuk hochstilisierte, nicht wöchentlich eineinhalb Stunden seiner Zeit wert war.In diesem Moment beschloss Hester, die ohnehin schmollte, weil sie zusehen konnte, wie sie hinterhergestolpert kam, es sei wohl das Beste, niemand zu erzählen, dass es Linnies Bibel gewesen war, die den ganzen Aufstand verursacht hatte.
Mit Entsetzen stellte Syrenka fest, dass Ezra reglos in ihren Armen hing und kurz davor war zu sterben. Sie drückte ihren Mund auf seine Lippen, aber da Ezra ihn nicht erwidern konnte, war dieser Kuss zu schwach, um ihn zu retten. Dann wurde Ezra durch einen neuerlichen heftigen Ruck des Netzes Syrenka aus den Armen gerissen. Er hatte fast keine Luft mehr in seiner Lunge und er sank hinab. Im letzten Moment bekam Syrenka ihn noch einmal zu fassen. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, schob ihn an die Oberfläche und hielt sein Gesicht über den Wasserspiegel, bis ein plötzlicher Hustenanfall seinen Körper schüttelte und Syrenka die Hoffnung gab, dass er um sein Leben kämpfen würde.
Währenddessen zog Olaf weiterhin aus Leibeskräften das Netz ein, bis Syrenkas gefesselte Schwanzspitze in seinem Boot lag. Der größte Teil ihres langen
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