syrenka
einer ehrbaren Familie. Seine Mutter hatte sich immer ein Enkelkind gewünscht. Und es soll geliebt und umsorgt werden.« Sie drückte Lydias faltige Hand. »Bitte, ich würde es nicht ertragen, bei ihr zu leben, während sie um ihn trauert. Kann ich nicht bis zur Niederkunft hier bleiben? Ich bitte Euch!«
»Aber diese Frau sollte doch wissen ...«
»Ich werde eine Nachricht senden. Ich werde ihr noch heute schreiben. Es wird sie trösten, wenn sie weiß, dass ich in Euren Händen gut aufgehoben bin.«
Lydia lächelte. »Du kannst bleiben, bis das Baby da ist. Wir werden dir bei der Geburt und im Wochenbett zur Seite stehen. Und wir werden dich zu deiner Schwiegermutter bringen, wenn ihr beiden zu Kräften gekommen seid, du und das Kind.«
»Ihr seid so gut zu mir«, sagte Sarah. »Es war solch ein Glück ... es war ein Segen , dass Ihr mich gefunden habt!«
Lydia führte sie in den Korridor zum Sekretär und gab ihr ein Blatt Papier, Umschlag, ein Wachssiegel, Feder und Tinte.
»Ich habe keine Postmeistermarken, aber ich werde nachher in die Stadt fahren und deinen Brief mitnehmen.«
»Wenn es Euch keine Unannehmlichkeiten bereitet, möchte ich gern selbst mitkommen«, antwortete Sarah.
Sarah machte den Umschlag so fertig, als enthielte er einen Brief. In der Stadt entfernte sie sich unter dem Vorwand, ihn aufzugeben, warf aber stattdessen das leere Schriftstück in einen Mülleimer vor einer Schenke und ging hinein. Es war noch früh am Tag, daher drückten sich dort nur ein paar Trunkenbolde herum. Sarah erkundigte sich bei ihnen nach einem Mann namens Ezra Doyle.
Mr. Doyle? Ja, der lebte, auch wenn er Schlimmes durchgemacht hatte und ein Stück weit die Küste hinunter fast ertrunken wäre. Seitdem war er schwermütig geworden. Nein, er hatte nicht geheiratet. Wie hätte er denn jemand kennenlernen sollen? Er verbrachte jeden Tag an der Bucht, saß gedankenverloren auf der Buhne oder ruderte ziellos in seinem Boot umher.
Sarah hatte kaum zu hoffen gewagt, dass Ezra noch lebte, und schon gar nicht, dass er noch immer nach ihr suchte. Sie brachte kein Wort hervor. Ein Mensch in nüchternem Zustand hätte vielleicht bemerkt, dass ihre Unterlippe zitterte.
»Und was dürfen wir ihm sagen, wer ist die hinreißende Lady, die sich nach ihm erkundigt hat?«, rief der Wirt über den Tresen, die Augenbrauen in die Höhe gezogen und ein Grinsen im Mundwinkel.
Sarah sah ihn fest an und fand ihre Stimme wieder. »Eine alte Freundin. Eine sehr alte Freundin. Mein Name ist Sarah.«
Sie wusste, dass ihre blasse Haut den Männern in Erinnerung bleiben würde. Bestimmt würden sie Ezra von ihrem Besuch erzählen, und vielleicht erriet er, dass sie Syrenka war – in der Gestalt einer Sterblichen. Wenn er sie noch immer liebte, würde er seine Suche nicht aufgeben. Und vielleicht konnte er sich während der sieben Monate, die sie brauchte, bis sie frei war, seine Hoffnung erhalten.
Irgendwo in ihrem Inneren – einem Teil ihres Selbst, der durch Ezra und Lydia Mitleid erlernt hatte – tat es ihr leid, dass sie ihn hintergehen musste, indem sie ihre Schwangerschaft unterschlug. Aber sie konnte einfach nicht aufhören, ihn zu lieben. Und sie hätte nicht ertragen, dass er sie mit dem Kind eines anderen Mannes schwanger sah. Wenn er sie von nun an noch sieben Monate liebte, würde sie ihn finden. Und wenn er sie zur Frau nahm, würde sie sich ihm für den Rest ihrer sterblichen Tage hingeben.
Hester zog sich ihre normale Kleidung an und lief zum Wagen ihrer Stiefmutter. Mit dem Auto lag die Bibliothek nur ein paar Minuten von der Plimoth Plantation entfernt.
Der Architektur nach hätte die Bibliothek auch eine Vorstadt-Highschool sein können. Sie sah fast genauso aus: ein großes, zeitgenössisches rotes Ziegelsteingebäude mit einem runden Glaserker über dem offenen Treppenhaus, das in die erste und zweite Etage führte.
Enttäuscht musste Hester feststellen, dass es wenig Sinn hatte, die Old Colony Memorial nach Mordfällen zu durchforsten. Die Zeitung war auf Mikrofilmen archiviert – altmodischen Rollen ohne Register. Von ihren früheren Schulreferaten her hätte sie sich daran erinnern müssen: Im Gegensatz zum Googeln oder Surfen im Internet konnte man auf den Mikrofilmen nur etwas herausfinden, wenn man das genaue Datum des gesuchten Ereignisses kannte. Hester nahm sich vor, sämtliche Schlagzeilen des Jahres 1892 zu lesen – dem Jahr, in dem die Kirche gebrannthatte – und sich von dort aus
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