syrenka
musste er sich eingestehen, dass er sich einsam fühlte. Er sehnte sich nach einer liebevollen Frau – nicht nur nach der Erinnerung daran. Er brauchte eine Frau aus Fleisch und Blut, die ihn in ihre warmen Arme schloss, wenn er abends nach Hause kam. Er brauchte jemanden, mit dem er lachen konnte, jemanden, mit dem er seine Träume verwirklichen konnte, jemanden, mit dem er morgens aufwachen konnte und jemanden, mit dem er alt werden konnte.
Die Inschrift auf Lucys Grabstein war deswegen so liebevoll und anrührend, weil Lucy die Frau war, mit der Bartholomew sein Leben geteilt hatte. Lucy war diejenige, die Nellie wie eine Mutter geliebt hatte und zu der sie lief, wenn sie sich die Knie aufgeschlagen hatte oder traurig war. Und Lucy war die Frau an Bartholomews Seite gewesen, die die gesellschaftlichen Funktionen übernommen hatte, in der Kirche, bei Abendessen und bei Tanzveranstaltungen. Und sie war die Frau, die mit den Jahren immer mehr geachtet wurde und die nach ihrem Tod von derFamilie, den Freunden und den Einwohnern der Stadt betrauert worden war. Im Vergleich dazu wirkte Marijns Inschrift sachlich und distanziert. Sie war fast ein Niemand: ein kurzer Lichtblick in Eleanors Leben, für ihre Tochter Nellie eine Unbekannte und eine kurz aufflackernde Flamme in Bartholomews arbeitsreichem Leben von zweiundneunzig Jahren.
Hester erreichte die Treppe, die neben der alten Kirche zur School Street hinabführte. Noch vor der ersten Stufe musste sie sich plötzlich an das Metallgeländer klammern. Sie fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen, als wenn die Geheimnisse dieses Grabsteins, die so lange verborgen gelegen hatten und übersehen worden waren, endlich ans Tageslicht gekommen wären und nun mit aller Kraft auf sie einstürmten.
Marijn war zum Zeitpunkt ihres Todes ungefähr in Hesters Alter gewesen. Eigentlich hatte das ganze Leben noch vor ihr gelegen. Alles, was sie hätte tun oder werden können, war durch ihren Tod für die Welt verloren gegangen. Durch den frühen Tod Marijns hatte sich aus Bartholomews Leidenschaft nie eine wirklich tiefe Zuneigung entwickeln können – eine solche Liebe, wie Hester sie zwischen Malcolm und Nancy im Verlauf ihrer gemeinsamen fünfzehn Jahre wachsen gesehen hatte. Und Nellie war als kleines Mädchen niemals von Marijn in die Arme geschlossen worden, sie war als Teenager niemals sauer auf sie gewesen und sie hatte sie als junge Frau auch nie um Rat bitten können.
Auch für Hester war ihre eigene leibliche Mutter ein Geheimnis geblieben. Sie existierte eigentlich nur in den Geschichten und den Erinnerungen von anderen. Sie war eine Handvoll Fotografien, die sich niemals bewegten oder lachten. Sie lebte nur in den wehmütigen Blicken anderer Leute.
Hester setzte sich auf die oberste Treppenstufe. Als Susan starb, hatte sie gewusst, dass sie nur ein Phantom in Hesters Leben sein würde, dass Hester, wenn sie hingefallen war, in die Arme einer anderen Frau laufen würde. In der jüngsten Generation der mysteriösen Todesserie in ihrer Familie hatte Nancy Lucys Rolle eingenommen. Nancy war an Malcolms Seite gewesen, während er sich vom wissenschaftlichen Assistenten am Woods Hole zum regulären Mitarbeiter und schließlich an die Spitze des Ocean Life Institutes emporgearbeitet hatte. Nancy war es gewesen, die Hester zum Ballett und danach zum Fußballtraining und noch später zum Fechten gebracht hatte, bis Hester endlich ihr wirkliches Hobby, ihr Interesse für Geschichte entdeckt hatte und Darstellerin in der Plimoth Plantation wurde – wohin Nancy sie während der Schulzeit an jedem Wochenende und in den Sommerferien jeden Tag fuhr, bis Hester ihren Führerschein hatte. Nancy hatte sie getröstet und ihr gut zugeredet, als sie im Alter von zehn Jahren ihre Periode bekommen hatte – viel zu jung, um es zu verstehen –, während Susan, die liebe, bemitleidenswerte Susan, längst Asche war – in einer intimen Feier von einem Captain-Dave-Boot aus ins Meer gestreut – und nicht mehr zu unterscheiden vom Sand und den Algen auf dem Meeresgrund.
Hester begann zu weinen. Sie weinte um Nellie, weil sie Marijn niemals kennengelernt hatte. Sie weinte für Malcolm und ihren Großvater, weil sie Susan verloren hatten, und um Susan und ihre Zukunft. Und sie weinte um Nancy, die die Rolle einer fremden Frau so liebevoll ausfüllte. Und schließlich weinte sie um sich selbst, um all das, was sie mit ihrer Mutter nie hatte erleben können, und um die Dinge, die sie in ihrer
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