syrenka
neben den Ontstaan-Gräbern noch etwas anderes übersehen hatte, das wichtig sein könnte. Während sie langsam an den Gräbern entlanglief, erinnerten sie die finstere Wolkendecke und die in feinem Nebel herabfallenden Tropfen des Regens an die Abschlussparty auf dem Picknickgelände. Von der Kuppe des Hügels sah sie auf die Bucht hinaus. Das Meer hatte eine trübe graue Farbe, es war stürmisch und schien launisch, wie gereizt. Der Strand war von hier aus nicht zu sehen, aber Hester konnte ihn sich vorstellen. In Gedanken stieg sie die Steintreppe hinab – sie sah sie so deutlich vor sich, als wäre sie tatsächlich dort – und betrat den Sandboden. In ihrer Vorstellung herrschte Ebbe, die Höhle lag frei und lockte sie. Einige Augenblicke verharrte Hester so, geistig in einer anderen Welt, dann zwang sie sich in die Realität zurück, schüttelte den Kopf,um ihn freizubekommen, und konzentrierte sich wieder auf die vor ihr liegende Aufgabe.
Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie ein Grab mit dem Namen Marijn gefunden hatte. Sie las ihn nur auf einem einzigen Grabstein neben dem Namen Bartholomew Crotty. Marijn schien eine seiner beiden Ehefrauen gewesen zu sein. Das Grab lag kaum sichtbar in der Nähe eines Maschendrahtzauns und besaß nur einen einzigen, verwitterten Grabstein, in den oben ein paar einfache Blumen eingemeißelt waren. Hester trat näher und schob das Unkraut, das die beiden unteren Zeilen bedeckte, ein wenig auseinander.
BARTHOLOMEW CROTTY
SEINE E HEFRAU MARIJN
1863 – 1955
1873 – 1892
K URZ IST DER LÄNGSTE
T AG UNSERES L EBENS
D URCH G OTT VON DER S EITE
I HRER KLEINEN T OCHTER
N ELLIE GERUFEN
SEINE E HEFRAU LUCY
1870 – 1942
L EB WOHL, MEIN L IEB’, BIS EINST EIN T AG
UNS WIEDER NEU VEREINEN mag.
D ANN WOLLN WIR RUHEN OHNE Z EIT
IN L IEBE, G LÜCK UND S ELIGKEIT.
Marijn Crotty – diese Frau musste Hesters Urururgroßmutter sein, Marijn Ontstaan. Denn wie viele Frauen namens Marijn konnten wohl im Jahr 1873 geboren und hier in Plymouth begraben worden sein?
Hester rechnete kurz nach: Marijn war mit neunzehn Jahren gestorben. Und ihr Ehemann Bartholomew war neunundzwanzig gewesen – zu jung, um Witwer zu bleiben. So hatte er Lucy geheiratet. Lucy wurde zweiundsiebzig Jahre alt und starb, als Bartholomew neunundsiebzig war. Er selbst wurde zweiundneunzig Jahre alt.
Eine Geschichte entspann sich in ihrem Kopf, je länger Hester die Inschriften betrachtete: Als Marijn und Bartholomew einander kennenlernten, war Marijn sehr jung und vermutlich recht unerfahren. Er musste ihr reif, souverän und weltgewandt vorgekommen sein. Zu jener Zeit machte ein Mann einer Frau nur einen Heiratsantrag, wenn er in seinem Beruf bereits gefestigt war und genug Geld verdiente, um ein Haus zu bauen. Marijn musste auffallend hübsch oder klug oder besonders witzig gewesen sein, jedenfalls auf irgendeine Weise unwiderstehlich, sonst hätte er sie nicht in einem so zarten Alter umworben. Hester malte sich eine stürmische Romanze aus, in der die Eltern Angeln etwas in Sorge darüber waren, dass ihre Tochter so früh aus dem Haus ging. Andererseits ließen sie sich aber doch durch Bartholomews gute Aussichten einigermaßen beruhigen. Wie hatten die Angelns noch mal geheißen? Hester hatte die Vornamen doch in der Old Colony im Zusammenhang mit den Todesfällen in der Kirche gelesen.
»Joseph und Eliza«, sagte sie laut, als es ihr wieder einfiel.
Joseph und Eliza ... Hester versuchte sich vorzustellen, was die beiden empfunden haben mochten, als ihre Adoptivtochter heiratete – knapp zwei Jahrzehnte nach dem schrecklichen Tod ihrer leiblichen Tochter und dem Tod von Elizas Schwester. Was für eine Freude musste diese Hochzeit für sie gewesen sein! EineHochzeit, gefolgt von einer Schwangerschaft und der glücklichen Geburt eines kleinen Mädchens. Dann aber, aus einer Laune der Natur oder durch den Willen Gottes, hatten sich bei Marijns Niederkunft Komplikationen eingestellt, die der Arzt nicht erkannt hatte oder nicht in der Lage gewesen war zu behandeln.
Hester machte sich allmählich wieder auf den Heimweg, rollte aber in Gedanken die Vergangenheit weiter auf.
Nellie, Marijns Tochter, hatte ihre Mutter nie gekannt. Ganz bestimmt hatte Marijns Mann um seine Ehefrau getrauert und war von Kummer schier überwältigt gewesen. Währenddessen hatte er Nellie allein aufgezogen. Dann ging es ihm irgendwann wieder besser. Ihm wurde klar, dass Nellie eine Mutter brauchte. Und noch ein wenig später
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