Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
syrenka

syrenka

Titel: syrenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Fama
Vom Netzwerk:
handmarmoriertes Papiereingeschlagen waren, und ein kleines Schulheft, das immer und immer wieder mit Zwirn zusammengeflickt worden war und offensichtlich als Tagebuch gedient hatte.
    Ms. Lopes zog eine weiße Schachtel heraus, die ungefähr die Größe und Form eines Buches hatte und die wie ein Geschenk mit einem Band verschnürt war. Sie schloss den Schrank wieder ab, legte den Schlüssel in die Schublade und nahm die Schachtel mit zu einem Tisch, der ihrem Schreibtisch gegenüberstand. Sobald sie an dem Band zog, klappten alle vier Seiten der Schachtel herunter und gaben ein verstaubtes Buch frei. Es besaß einen brüchigen Ledereinband und trug keine Signatur. Vorsichtig nahm Ms. Lopes das Buch heraus und legte es vor Hester auf den Tisch.
    »Dieses Buch ist ein regelrechtes Kunstwerk«, sagte die Bibliothekarin liebevoll. »Es ist das eigenwilligste Manuskript, das wir überhaupt besitzen. Wer auch immer es angefertigt hat, er muss ein großer Anhänger des Fantastischen gewesen sein.« Sie schlug das Buch irgendwo in der Mitte auf. Die aufgeschlagenen Seiten waren komplett mit einer altertümlichen Handschrift bedeckt und mit Zeichnungen von Flossen, die offenbar zu Schweinswalen oder Delfinen gehörten. Allerdings waren sie nur grob skizziert.
    »Von oben nach unten und von links bis rechts sind diese Seiten vollgeschrieben. Wie besessen geradezu.« Sie blätterte weiter. »Und ohne ersichtlichen Grund ist die nächste Seite vollkommen leer. Der Autor hört sozusagen mitten im Satz auf. Hier ...« Sie blätterte ein wenig weiter. »Immer wieder leere Seiten – absolut unerklärlich. Gefolgt von Seiten, die schier überquellen! Dieser Mann muss schon ein eigenartiger Kauz gewesen sein!«
    »Woher wissen Sie, dass E. A. Doyle keine Frau war?«
    »Ich gehe einfach mal davon aus. Weil dieses Buch aus dem Jahr 1872 stammt. Wir sind hier etwas unterbesetzt und unsere handschriftlichen Manuskripte sind noch nicht vollständig katalogisiert. Aber wenn es dich interessiert, kann ich, während du liest, ja mal nachsehen, ob wir weitere Informationen über das Manuskript haben.«
    »Danke, das ist nicht nötig«, antwortete Hester. Sie setzte sich und wollte das Buch gerade in die Hände nehmen, zögerte aber. »Muss ich nicht weiße Handschuhe oder so etwas anziehen?«
    »Nur im Kino«, antwortete Ms. Lopes kichernd. »Baumwollhandschuhe sind eher schädlich für seltene Manuskripte, weil man durch sie beim Umblättern des brüchigen Papiers kein Gefühl in den Fingern hat. Ordentlich gewaschene Hände – mehr verlangen wir nicht!« Damit verließ Ms. Lopes den Raum.
    Hester blätterte langsam durch das Buch. Sie versuchte, die alte Schrift zu lesen, und bewunderte die Zeichnungen. Seite um Seite stieß sie auf die schönsten Skizzen, die sie je gesehen hatte. Die meisten stellten surrealistische Meeresbewohner dar – allesamt Frauen, alle mit sehr hellem Haar und klaren Augen. Daneben fanden sich eng geschriebene wissenschaftliche Abhandlungen über die Struktur ihrer Fischschwänze, die Farbe und Stärke ihrer Schuppen – die E. A. Doyle »scuta« nannte – und die Form ihrer Zähne. Es gab Auflistungen von Nahrungsquellen und Diagramme ihrer verschiedenen Arten und Vorkommen sowie komplizierte historische Berichte über Stammeskriege, durch die die männlichen Exemplare getötet worden waren. Das ganze Buch war absolut einzigartig und wunderschön – und in seiner Leidenschaftlichkeit überwältigend. Hester kam nun zu den Seiten mit den Delfin-Flossen, die Ms. Lopes zuerst aufgeschlagen hatte. Sie blätterte weiter, zu einem herrlichen Porträt einer Sirene. Hester betrachtete ihre Augen, und es kam ihr vor, als blickte das wunderschöne Wesen eindringlich zurück. Hester betrachtete jeden Zug ihres Gesichts.
    »Moment mal!«, rief sie plötzlich laut aus. Vorhin war die Seite hinter den Flossen doch leer gewesen! Es hatte kein Porträt gegeben!
    Um sicherzugehen, dass sie nicht irrtümlich zwei Seiten gleichzeitig umgeschlagen hatte, blätterte Hester zurück. Sie untersuchte den Rand, sah und fühlte aber, dass es nur ein Blatt war, und blätterte wieder vor. Und jetzt kam es ihr vor, als würde die Zeichnung wie durch Geheimtinte vor ihren Augen entstehen. Überrascht und wie von einem elektrischen Schlag getroffen, zog sie ihre Hände von dem Buch weg. Das Porträt verschwand wieder.
    Hesters Herz raste. Das alles stellte sie sich doch bloß vor! Eine andere Erklärung konnte es nicht geben! Sie hielt den

Weitere Kostenlose Bücher