syrenka
die nicht mehr antworten konnten. Sie stand auf und zog ihn tiefer ins Wasser hinein.
»Nehmt seinen Leichnam mit in die Tiefen und lasst ihn in drei Tagen am Strand anspülen. Niemand aus der Stadt darf ihn schon heute Nacht tot auffinden.«
»Bitte, lass ihn ...«
»Enttäuscht mich nicht!«, warnte sie ihre Gefährtinnen. Damit eilte sie entschlossen aus dem Wasser.
Verzweifelt und unter mühevollem Einsatz ihrer Arme rutschte Needa ihr bis auf den Sand hinterher und bekam Sarah am Knöchel zu fassen.
»Dies ist ein Fehler, der bis in alle Ewigkeit nicht mehr gutzumachen sein wird«, stieß sie atemlos aus. »Wenn dein menschlicher Körper schon längst zu Staub geworden sein wird, wird er alleine auf der Erde wandeln.«
»Ich werde nicht ohne ihn leben!«, entgegnete Sarah. Damit machte sie sich von ihrer Schwester los und lief zum Friedhof hinauf.
Je näher sie kam, umso deutlicher hörte Sarah das Weinen des Babys. Sie begann zu laufen.
Als sie die Kirche erreichte, war sie geradezu überwältigt vom Wogen und Rauschen der noch spürbaren Gefühle der Menschen, die an diesem Abend gestorben waren. Dennoch konnte sie in diesem Chaos Ezras Empfindungen genau unterscheiden: Gewaltbereitschaft und Hass auf den Pastor, Wut, Verwirrung, Panik, Hoffnungslosigkeit, Ungeduld gegenüber dem kleinen Mädchen. Und als stärkstes Gefühl: die Liebe zu Sarah – Zärtlichkeit, Hingabe bis hin zur absoluten Opferbereitschaft.
Die Gefühle kamen in Wellen, wogten aus der Kirche heraus und wieder hinein, die Straße entlang in die Richtung, in die er sie davongetragen hatte, verebbten und fluteten wieder an. Sarah wusste, dass sie sich allmählich und unausweichlich verflüchtigen würden, wenn es ihr nicht gelang, sie einzufangenund an die Erde zu fesseln – indem sie sie an eine einzigartige, berückend schöne Geistererscheinung Ezras band.
Ezras Gegenwart in seinen Gefühlen zu spüren, machte sie schwindelig. Sie hob ihr Gesicht. Wenn sie ihn hätte einatmen und in ihrem Inneren hätte bewahren können, hätte sie dies getan. Aber es gab nur einen Weg, ihn zu halten.
Die Hintertür der Kirche stand offen. Das Licht, das herausfiel, beleuchtete den Grabstein, gegen dessen Kante Adeline gestürzt war. Das Baby lag in seine Decken gehüllt mit dem Gesicht zum Boden und schrie.
Sarah hob es auf. Sie wickelte das Baby aus den Windeltüchern und das Weinen ließ nach. Aufmerksam und genau, doch ohne Rührung musterte sie den wohlgeformten kleinen Körper. Dies war das Kind der heimtückischen Witwe, und es war nur gerecht, wenn die Ontstaans dafür zahlten, dass Ezra getötet worden war. Die Zeit lief davon. Was von Ezras Gefühlen noch übrig war, würde sich bald auf immer verflüchtigt haben, sich mit seiner Seele verbinden und nie mehr zurückzuholen sein.
Hastig wickelte Sarah das Baby wieder ein und drückte es fest an sich, während sie auf dem Friedhof hin und her wanderte: auf die Kirche zu und wieder weg, an der Seite entlang, unablässig auf der Suche nach der Stelle, wo Ezra am deutlichsten spürbar war. Das Gehen beruhigte das Baby. Es hörte auf zu weinen und begann, an den Händchen zu lutschen.
Sarah merkte, dass sich die Gefühle auf drei Stellen konzentrierten. Sie wählte eine Position zwischen diesen Punkten aus, wo so viel Energie wie nur möglich zusammenfloss. Dann legte sie das Baby an diesem Punkt ab und legte ihre Hände auf das Kind.
Sie schloss die Augen und suchte innerlich Kontakt zu Noo´kas.
Nimm die Seele dieses Kindes als Anker , formulierte sie ihre Gedanken Richtung Meer. Sammle, was von Ezra verblieben ist, und binde seinen Geist an die Stelle der Erde, wo er gestorben ist. Ich flehe dich an!
Der Wind frischte auf. Vereinzelt fielen dicke Tropfen Küstenregen herab.
Als die Tropfen das Gesicht des Babys benetzten, blinzelte es überrascht. Die Tropfen verstärkten sich zu einem richtigen Regen und schließlich zu einem Wolkenbruch. Das Baby strampelte und wimmerte. Aber Sarah schützte es nicht.
Eine plötzliche, wilde Böe hätte Sarah beinahe umgerissen. Aber sie fing sich und hielt das Kind an seinem Platz, während der Wind um sie herum wirbelte und mit einem Mal einen ungeheuren Windstoß erzeugte, der mit äußerster Wucht auf sie niederfuhr. Die Augen des Babys weiteten sich vor Schreck, als ihm der Atem aus der Lunge gepresst wurde.
Sarah fiel auf das Baby. Unter ihrem Körper hörte sie seinen erstickten, bebenden Schrei, mit dem das Leben aus dem Kind
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