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ihren Diensten.«
»Und eine Flucht ist nicht möglich?«, erkundigte sich McKee mit aufrichtiger Sorge.
»Einen Weg gibt es wohl, aber der erscheint mir zu einfach: Man muss sich an seine Verbindung zum Land erinnern. Manmuss um eine Audienz bei Squauanit ersuchen und darauf bestehen, dass man an Land gehört und nicht ins Meer.«
»Klingt nach einer eher schwierigen Person«, stellte der Pastor fest.
»Ja. So richtig gern möchte man nicht mit ihr zu tun haben.«
Die Kirchturmuhr schlug. Es war halb acht.
»Ich muss zu meinem Job.« Hester seufzte und stand auf.
»Tja, ich wohl auch.«
»Ich wüsste gern ...«, begann Hester, während sie McKee aufhalf. »Ich wüsste gern mehr über die Umstände von Linnies Tod. Und wer Marijns leibliche Mutter war. Und ich wüsste gern, warum die Morde ausgerechnet hier stattfanden. Sylvie Atwood hatte recht: Diese Geschichten werden irgendwann für immer verloren sein, nur weil die, die sie noch gekannt haben, allesamt tot sind.«
McKee begleitete Hester langsam zur Treppe. »Nur die Menschen sind tot, Liebes.«
Hester blickte ihn verdutzt an.
Er erwiderte ihren Blick flüchtig, dann sah er konzentriert zu Boden. »Aber wenn dieses Doyle-Journal die Wahrheit sagt, lebten damals tatsächlich Sirenen in unserer Bucht. Vielleicht kennen sie die Antworten, nach denen du suchst.«
Zwei Tage später stand Hester zur Mittagspause auf dem Parkplatz der Plimoth Plantation. Sie aß ein Sandwich und wartete darauf, dass Peter sie abholte. In ihrer normalen Kleidung war sie glücklicherweise für die Besucher, die hinter ihr unter dem Eingangsschild hindurchströmten, nicht zu erkennen. Das Doyle-Journal befand sich in der Tasche über ihrer Schulter. Ein sanfter Druck an ihrer Hüfte versicherte Hester, dass es tatsächlich da war.
Hester knüllte die Alufolie ihres Sandwichs zusammen und warf sie Richtung Mülleimer, traf aber nicht. Sie runzelte die Stirn. Dass sie Peter anlügen musste, war ihr unangenehm. Aber einen anderen Weg sah sie nicht.
Wenigstens am Telefon hatte sie ehrlich sein können. »Ich möchte gern mal die Puppe deiner Großtante Adeline sehen«, hatte sie gesagt. »Allerdings schließt das Museum um halb fünf, daher werden wir es nach der Arbeit kaum schaffen.«
»Sie ist sogar meine Urururgroßtante Adeline. Ich habe abernicht viel Zeit. Um zwei Uhr startet die nächste Walbeobachtung.«
»Wir machen ganz schnell.«
Hester schüttelte den Kopf. Vor der nächsten Dreiviertelstunde graute ihr. Sicher würde Peter ihr im Museum Fragen stellen – Fragen, auf die sie sich Antworten zurechtlegen musste, und zwar schnell. Sein Pick-up schwenkte schon auf den Parkplatz. Hester hob die zusammengeknüllte Alukugel auf, warf sie in den Mülleimer und winkte Peter so unbeschwert zu, wie sie nur konnte.
»Kindheit in der Gründungskolonie Plymouth 1620 – 1920«, stand auf dem Plakat. Die Ausstellungsstücke bestanden aus Büchern, Möbeln, Kleidung und Spielsachen. In der Spielzeugabteilung gab es in einer Vitrine eine einfache handgenähte Puppe aus dem Jahr 1615, die einer Mary Chilton gehört hatte, einer Passagierin der »Mayflower«. Daneben war die bedeutend größere und kunstvollere Puppe ausgestellt, wegen der Hester ins Museum gekommen war: Adeline P. Angeln zugeschrieben; Manufaktur François Gaultier, Frankreich, ca. 1870. Porzellankopf, bewegliche Glasaugen, mit Gelenken versehener Leib aus Textil und Holz, Porzellanarme.
Es gab keinen Zweifel – dies war Linnies Puppe! Sie hatte ein ernstes Gesicht mit prallen Bäckchen, handgemalte, rosige Lippen, lebensecht wirkende Augen mit aufgemalten langen Wimpern und kleine Türkis-Ohrringe. Durch ihre Wange verlief ein feiner Haarriss, und ihre linke Augenbraue war abgeplatzt, sodass man das rohe, weiße Porzellan darunter sehen konnte. Ihre langen, kastanienbraunen Locken wurden an beiden Seiten desKopfes lose von schwarzen Seidenbändern zusammengehalten. Ihr Kleid war tiefviolett, genau wie Linnie es beschrieben hatte, mit Spitzenbesatz am Kragen, an den Ärmeln und am Saum. Darunter trug die Puppe einen Unterrock mit Lochmuster und zeitgenössische schwarze Netzstrümpfe. Jetzt verstand Hester, warum Linnie an dem Tag, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, an ihrer Puppe Annabelle manches auszusetzen gehabt hatte.
»Sogar beschädigt macht diese Puppe noch mehr her«, murmelte Hester vor sich hin.
»Wie bitte?«, fragte Peter.
»Ich sagte ... es ist eine Schande, dass diese Puppe
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