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Quartier Latin schwamm, etwa auf Höhe der Fenster des zweiten Stockwerks der Häuser. Er flog mitten über der Straße, die diejenige kreuzte, auf der Milgrim sich befand. Deshalb war er nur kurz zu sehen, als er die Kreuzung überquerte. Er schwamm durch die Luft und ruderte auf ebenso elegante und zielstrebige wie effiziente Weise mit den quecksilbernen Flossen. In diesem Moment fuhr ein Fahrrad in entgegengesetzter Richtung an Milgrim vorbei.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte Milgrim den Radfahrer, der aber natürlich bereits verschwunden war und ihn wahrscheinlich auch nicht gehört hatte.
31. Das verborgene Räderwerk
Sie tat ihr Bestes, das Unbehagen loszuwerden, von dem sie seit dem Gespräch mit Heidi erfüllt war. Zog Strumpfhosen an und das mitgebrachte Kleid, Schuhe. Schminkte sich. Das Badezimmer war ein Alkoven und nahm weniger Fläche ein als die Wells-Dusche im Cabinet.
Sie durfte gar nicht erst anfangen, sich um Garreths Sicherheit zu sorgen, sonst würde sie nie damit aufhören - das hatte die Stimme der Vernunft ihr gesagt, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Gefahr war schließlich sein Geschäft. Wenn er Geld brauchte, weil ihm das Einkommen eines ehemals leidlich populären Musikers im Ruhestand nicht reichte, kam er auf den alten Mann zurück, der den späten Porträts von Samuel Beckett nicht unähnlich sah, die Augen vergleichbar wild, womöglich verrückt. Der Alte, der angeblich einmal - wenn auch in nicht näher bestimmter Funktion — beim amerikanischen Geheimdienst gearbeitet hatte, war Garreths Produzent und Regisseur. Gemeinsam schufen sie eine Folge heimlicher Aktionskunstwerke. Die, soweit sie mitbekommen hatte, von anderen Geheimdienstlern im Ruhestand finanziert wurde. Irgendwelche skrupellosen alten Knacker, die offenbar eine Abneigung gegen die Politik der Regierung teilten. Den Alten hatte sie, nach Vancouver, nie wieder zu Gesicht bekommen, aber er war während ihrer ganzen Zeit mit Garreth im Hintergrund spürbar gewesen, wie ein Radio, das leise im Nebenzimmer lief. Seine Stimme war es, die am häufigsten aus einem von Garreths kurzlebigen Handys drang.
Der Alte hatte ihre Beziehung bestimmt nicht gutgeheißen, aber der vielseitig begabte Garreth wäre für ihn nur schwer zu ersetzen gewesen. Ein Mann immerhin, dessen Vorstellung von Spaß darin bestand, sich in einem Nylonanzug mit eingenähten Membranen zwischen den Beinen und zwischen Oberschenkeln und Armen von einem Wolkenkratzer zu stürzen, während überall um ihn herum tödliche Glas- und Stahlspitzen aufragten. All das war für Hollis hochgradig untypisch gewesen, wie Heidi ihr damals entgegengehalten hatte. Überhaupt nicht ihr Geschmack. Athleten, Soldaten - Fehlanzeige. Sie stand mehr auf Künstlertypen, egal welcher Provenienz, und bedauerlicherweise auch auf diese heiklen Zwitterwesen, geschäftstüchtige Künstler oder künstlerisch veranlagte Geschäftsleute, die über eine Persönlichkeit verfügten, die einem ebenso viel abverlangte wie die Kreuzungen ehrgeiziger Hundezüchter. Früher hatte sie das gewusst und hin und wieder auch glücklos ausgelebt. Aber ein Objektspringer aus Bristol, der Rollkragenpullover trug und sich nie Gedanken über die Folgen seines Tuns machte? Der die weniger beliebten Gedichte von Dylan Thomas zitierte, weil er nach eigener Aussage nicht singen konnte? Alldieweil er Graffiti auf das verborgene Räderwerk der Geschichte kritzelte. Garreth. Den sie, wie ihr jetzt klar wurde, während sie in dem bronzefarbenen Fahrstuhl abwärtsfuhr, aufrichtig liebte. Wobei sie das jedoch rasch wieder verdrängte, bevor sie mit einem Ruck im Foyer ankam.
Sie trug die Hounds-Jacke offen über ihrem Kleid und hoffte, dass sie, so dunkel, wie sie war, als Bolero durchging. Wie viele Saisons würden vergehen, bis ihre so offensichtlich nicht zusammenpassenden Kleider sie zur Stadtstreicherin stempeln würden? Das gehörte wohl zu den Dingen, um die sich Bigend sorgte, der immer wieder auf alternde Bohémiens zu sprechen kam.
Sie nickte dem Mann an der Rezeption, der einen Roman las, kurz zu und klappte den Kragen hoch, wobei ein schwacher Indigoduft aufstieg, der im Foyer des Hotels hängenblieb.
Die Luft draußen war vom Regen gereinigt worden, und das Pflaster glänzte. Zehn vor acht, laut ihrem iPhone. Sie konnte, wie entweder George oder Meredith gesagt hatte, Les Editeurs von hier aus sehen, nicht auf der anderen Straßenseite, sondern noch eine Straße weiter, schräg gegenüber.
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