System Neustart
Sie ging nach rechts, an der schicken kleinen Apotheke vorbei, dann wieder nach rechts. Sie wollte nicht zu früh kommen. In dieser deutlich schmaleren Straße, die in einem scharfen Winkel abzweigte und hinter dem Hotel entlangführte, befanden sich ein Antiquariat, eine Cocktailbar, ein spartanisch eingerichtetes Sushi-Restaurant, ein Buchbinder und ein Geschäft, das sich offenbar auf chinesisches Reflexologiezubehör spezialisiert hatte: sadistisch aussehende Massagegeräte, Handbücher sowie Modelle von Körpern und Körperteilen, auf denen Energiebahnen und Akupunkturpunkte eingezeichnet waren. Darunter auch ein großes Porzellanohr, das anscheinend mit dem in Heidis Zimmer im Cabinet identisch war.
Sie kehrte um und schlenderte zu dem etwas kleineren Schaufenster des Buchbinders hinüber. Wie sah wohl seine Kundschaft aus? Wer war bereit, so viel Geld hinzublättern, um alte Bücher neu zu binden, damit sie diesem hohen handwerklichen Standard entsprachen - auserlesenes Leder, um uralte Gedanken einzukleiden? Bigend vielleicht; allerdings wusste er seine bibliophilen Neigungen gut zu verbergen, wenn er denn welche hatte. Bisher hatte sie in seinem Umfeld noch nie ein Buch gesehen. Er war ein Geschöpf der Bildschirme, der leeren Schreibtische, der leeren Regale. Soweit sie wusste, besaß er keinerlei Kunst. Womöglich betrachtete er sie als potentielle Konkurrenz, als Lärm, der seine Signale übertönen könnte.
Eines der Bücher in dem Schaufenster war fächerförmig geöffnet und glich einem goldgeprägten, elfenbeinfarbenen Stück Pastete.
Die Straße lag völlig verlassen da. Hollis sprach ein stilles Gebet für Garreth. Ohne zu wissen, an wen sie es eigentlich richtete. An das Universum, das sie immer wieder im Stich ließ. Oder an das Räderwerk, das er immer vollschmierte. Bitte.
Der Bücherfächer musterte sie selbstgefällig, makellos, sein Inhalt vielleicht seit Jahrhunderten ungelesen.
Sie wandte sich ab und ging in Richtung der Odéon. Überquerte sie und schlenderte zum Restaurant weiter. Vor dem, wie sie als ehemalige Berühmtheit sofort erkannte, Paparazzi lauerten.
Sie blinzelte und lief weiter. Ja, da waren sie. Die Körpersprache war ihr vertraut, dieses nervöse, lässige Gehabe, als wäre ihnen alles egal. Eine Art Zorn, aus Langeweile geboren. Auf den roten Tischdecken ein billiges Getränk, das sie nicht angerührt hatten. Das Handy am Ohr. Ein paar mit Sonnenbrillen. Sie beobachteten, wie sie näher kam.
Instinktiv wartete sie darauf, dass der Erste seine Kamera hob. Wartete auf die Geräusche des maschinellen Bildersammelns. Spannte die Muskeln ihres Beckenbodens an. Bereit, die Flucht zu ergreifen oder sich möglichst vorteilhaft in Pose zu werfen.
Doch niemand machte ein Foto von ihr. Obwohl sie sie aufmerksam musterten. Sie war nicht die Beute. Schon seit Jahren nicht mehr. Aber kurzzeitig von Interesse, weil sie hier aufgetaucht war. Warum?
Les Editeurs war im Art-déco-Stil gehalten, allerdings nicht die Variante mit Chrom und Onyximitat. Rotes Leder in der Farbe von Nagellack aus den Fünfzigern, mittelbraun lasiertes Holz, meterweise Bücher, gerahmte Schwarzweißfotografien französischer Gesichter, die sie nicht erkannte.
»Er hätte Sie nicht schicken brauchen«, sagte Rausch, ihr ehemaliger Redakteur bei Bigends fiktiver Kulturzeitschrift Node. »Es läuft alles völlig reibungslos.«
Er funkelte sie über den oberen Rand seines schweren schwarzen Brillengestells hinweg wütend an. Sein schwarzes Haar wirkte wie Flocken auf seiner Kopfhaut.
»Mich hat niemand geschickt. Was machen Sie hier?«
»Wenn er Sie nicht geschickt hat, warum sind Sie dann hier?«
»Ich bin mit jemandem zum Abendessen verabredet. In Paris bin ich, weil ich etwas für Hubertus erledige, aber das hat nichts mit Ihnen zu tun. Und Sie?«
Rausch strich sich verärgert mit den Fingern durch nicht vorhandenen Locken. »Fridrika. Die Dottirs. Die bringen diese Woche ihr neues Album raus. Sie ist zusammen mit Bram hier.« Er verzog das Gesicht. »Bram?«
»Bram, von den Stokers. Diese Vampirnummer.« Ihm schien das richtiggehend peinlich zu sein. »Eydis ist angeblich scharf auf ihn, aber jetzt ist er mit Fridrika zusammen. In den Staaten hat sich People auf Fridrikas Seite geschlagen, Us hat für Eydis Partei ergriffen. Hier drüben sind die Verhältnisse noch nicht so eindeutig geklärt, aber bis morgen wird sich auch das geändert haben.«
»Ist diese Taktik nicht uralt?«
Rausch zuckte
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