Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
System Neustart

System Neustart

Titel: System Neustart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
Vom Netzwerk:
weiter.
    Am Ende der Git-le-Coeur kam er zu einer Fußgängerampel und überquerte eine stark befahrene Straße, an deren Name er sich erinnerte — der Quai des Grands Augustins. Dann stieg er rasch eine steile Steintreppe hinunter, die ihm ebenfalls im Gedächtnis geblieben war. Es war ein sonniger Tag gewesen, damals vor vielen Jahren.
    Unmittelbar neben dem Fluss verlief ein schmaler Fußweg. Hatte man ihn betreten, konnte man von oben nur noch gesehen werden, wenn jemand sich vorbeugte. Er sah nach oben und wartete darauf, dass ein Helm, ein Kopf oder mehrere Köpfe auftauchten.
    Er hörte einen Motor auf dem Wasser und drehte sich um. Ein dunkles Holzsegelboot mit grünen Verzierungen fuhr vorbei. Sein Mast ragte vertikal auf. Es wurde von einer Frau in kurzen Hosen, einem gelben Regenmantel und einer Sonnenbrille gesteuert, deren Blick konzentriert auf das Wasser gerichtet war.
    Er sah wieder zur Balustrade hoch. Nichts. Die Treppe war ebenfalls leer.
    Da bemerkte er eine flache Vertiefung in der Mauer und suchte dort Schutz vor dem stärker werdenden Regen.
    Und dann kam ein längeres, breiteres Boot unter einem Bogen hervor, der Teil einer Brücke war, deren Namen er vergessen hatte. Es sah aus wie eines dieser Touristenboote, auf die Pariser Kinder von Brücken hinunterspuckten, aber es war mit einem riesigen Plasmabildschirm ausgestattet, der beinahe seine gesamte Länge einnahm und etwa dreieinhalb Meter hoch war. Während es vorbeifuhr, erblickte er auf dem Bildschirm den jungen Mann, mit dem sich Hollis auf dem Salon du Vintage unterhalten hatte und der etwas Affenähnliches hatte, aber auf attraktive Weise. Seine Gesichtszüge waren unverkennbar.
    Er war Teil einer Band und spielte auf einer Orgel oder einem Piano. Seine tiefliegenden Augen waren verschattet. Allerdings war nichts zu hören außer dem leisen Tuckern des Bootsmotors. Dann erzitterten die Pixel, und das Bild brach in sich zusammen. Als es wiederkehrte, waren auf dem Bildschirm die beiden langweiligen Blondinen aus Island zu sehen, die Zwillinge, mit denen Bigend manchmal aus heiterem Himmel auftauchte. Die Dottirs in paillettenbesetzten Kleidern, ihre Gesichter auf dem regennassen Bildschirm verzerrt, die Münder zu stummen Schreien geöffnet.
    Er setzte vorsichtig seine Tasche auf dem Pflaster unter dem Mauervorsprung ab und dehnte seine schmerzende Schulter, während er zusah, wie die Dottirs geheimnisvoll über das dunkle Wasser glitten.
    Als der Regen aufgehört hatte und noch immer niemand aufgetaucht war, hängte er sich die Tasche über die andere Schulter und ging weiter auf die Brücke zu. Er stapfte eine andere Steintreppe hoch, überquerte dann erneut den stark befahrenen Grands Augustins und ging in das Quartier Latin hinein, wobei er ungefähr die Richtung einschlug, aus der er gekommen war.
    Die Pflastersteine waren nass und glänzten, die Straße kam ihm einigermaßen vertraut vor. Es wurde bereits ziemlich rasch dunkel. Und dann, als er auf eine weitere Kreuzung zuging, wo in zufälligem Winkel zwei Straßen aufeinandertrafen, passierte es.
    Bei klarem Geisteszustand, wie es immer geheißen hatte.
    Halluzinogene, bewusstseinserweiternde Drogen, Delirantia hatten ihn stets abgestoßen. Eine begehrenswerte Droge war in seinen Augen immer eine gewesen, welche die Realität vertrauter und schneller erkennbar machte.
    In Basel hatten sie ihn in der Anfangszeit des Entzugs eingehend zum Thema Halluzinationen befragt. Ob er welche gehabt hatte? Nein, hatte er gesagt. Keine ... Wahrnehmungsstörungen? Überhaupt keine Störungen, hatte er ihnen versichert. Ein mögliches Symptom des Entzugs, hatten sie ihm erklärt, konnten »Halluzinationen bei klarem Geisteszustand« sein. Allerdings hatte er sich gefragt, woher sie damals wissen konnten, dass sein Geisteszustand klar war. Die Wahrnehmungsstörungen, worin diese auch bestehen mochten, waren zu seiner großen Erleichterung nie aufgetreten. Doch nun sah er, zwar nur kurz, aber doch mit bemerkenswerter Klarheit, auf der Kreuzung vor ihm einen fliegenden Pinguin.
    Oder jedenfalls etwas, das die Gestalt eines Pinguins hatte. Von der Schnabelspitze bis zu den Füßen war er etwa anderthalb bis zwei Meter lang und schien komplett aus Quecksilber zu bestehen. Ein Pinguin, der in einen flüssigen Spiegel gehüllt war, in dem sich die Neonlichter der Straße unter ihm spiegelten. Er machte Schwimmbewegungen und glitt vorbei wie ein Pinguin unter Wasser. Nur dass er durch die Luft des

Weitere Kostenlose Bücher