T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
was? Antworten über den Verbleib deines Sohnes? Darauf, dass verschüttete Erinnerungen zurück an die Oberfläche gelangen?
Ava straffte die Schultern. Sie spürte, wie der kalte Wind an ihrem Haar riss, und dachte an den Traum, der immer so real war, und dann an gestern, als sie Noah auf dem Anleger gesehen hatte.
Sie ging die Stufen zum Souterrain hinab und drückte auf die Klingel.
Zwei von Cheryls streunenden Katzen beobachteten sie. Ava wartete, zweifelnd, ob sie wirklich das Richtige tat.
Eine halbe Minute später wurde die Tür geöffnet.
»Hallo, Ava, wie schön, Sie zu sehen«, sagte Cheryl.
Sie war nur knapp eins fünfundfünfzig groß, verbarg ihre üppigen Rundungen unter einem gebatikten Kaftan und hatte die blonden Locken mit einem Haarband aus dem runden Gesicht gebunden, das sich jetzt voller Sorge verzog. Zweifelsohne waren die Gerüchte von Avas Bad in der Bucht bis hierher vorgedrungen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie über die leise Musik hinweg, die durch den Flur hallte. Weihrauch hing in der Luft, doch er konnte nicht über den scharfen Geruch nach Schimmel und Katzenurin hinwegtäuschen. »Wie fühlen Sie sich?«
Grauenhaft.
»Natürlich behaupte ich immer, es gehe mir gut, doch in Wahrheit …«
»… stimmt das nicht.«
»Es geht wieder um diese Träume. Ich weiß, dass es verrückt klingt und völlig ausgeschlossen ist, trotzdem sehe ich ihn. Ich sehe meinen kleinen Jungen.« Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, damit ihr bei dem Gedanken an Noah nicht die Stimme brach.
Cheryl tätschelte ihren Arm. »Kommen Sie erst einmal herein. Mal sehen, was ich für Sie tun kann.« Sie bedeutete Ava, ihr zu folgen, und führte sie einen langen Gang mit einer Reihe von Türen entlang – manche geöffnet, manche verschlossen – bis zu ihrer Praxis. Hier waren die Wände eisgrau gestrichen und erinnerten Ava an den Pazifik im Winter.
»Sie können in dem Sessel Platz nehmen oder auf der Couch, wenn Ihnen das lieber ist.« Cheryl zündete eine Kerze an.
Dies war Avas zweiter Besuch. Die erste Sitzung war nicht sonderlich erfolgreich gewesen; zumindest hatten sie keine nennenswerten Durchbrüche erzielt, die Ava geholfen hätten, ihre gepeinigte Seele zu verstehen.
Trotzdem war sie wiedergekommen.
Noch immer rastlos. Noch immer auf der Suche.
Sie setzte sich in den üppig gepolsterten Ruhesessel und legte die Füße auf die Fußstütze. Dann schloss sie die Augen und spürte, wie Cheryl ihr eine kuschelige Decke über die Beine legte. Hier fühlte sie sich sicher. Ruhig. Befreit. Ganz anders als auf der Insel.
»Ich möchte, dass Sie heute in die Tiefe Ihres Bewusstseins vordringen«, sagte Cheryl leise, aber bestimmt, und setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber. »Entspannen Sie sich und gehen Sie tiefer …«
Ava nahm kaum ihre Stimme wahr, genauso wenig wie die beruhigende Musik. Sie tauchte in sich selbst ein. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht richtig zu schlafen, doch auch nicht ganz wach zu sein, als befände sie sich in einer Art Schwebezustand. Wie in einem Traum.
»Atmen Sie tief ein …«
Ava holte tief Luft und spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel.
»Jetzt gehen Sie tiefer … noch tiefer … an Ihren ganz persönlichen Ort …«
An den Ort der Ruhe. In ihrer Vorstellung sah sie sich selbst in der sonnigen Bucht in der Nähe des Wasserfalls. Sie trug ein gelbes Sommerkleid und hatte die Haare mit einem schlichten Gummiband zurückgebunden. Weißer Sand glitzerte im Sonnenlicht, das durch die Bäume fiel, Gischt benetzte ihre Wangen. Das Wasser war klar und kühl und …
Noah war auch da, stellte sie fest. Er spielte im Sand, seine Fingerchen gruben in den feinen Körnern, die im warmen Sonnenlicht schimmerten. Er saß nur ein kleines Stück von ihr entfernt.
»Schätzchen«, sagte sie laut, und er grinste, wobei er seine weißen Zähnchen zeigte.
»Mommy! Sieh mal, was ich gefunden habe!« Er hielt eine Muschel in die Höhe, die golden in der Sonne glänzte, schön in ihrer Komplexität, doch zerbrochen.
»Vorsicht, Liebling, die Ränder sind scharf.«
Ava ging zu ihm, ihr Schatten fiel auf sein Gesicht. Sie bemerkte einen Anflug von Trotz in seinen Augen. »Deshalb heißt sie ja auch Schwertmuschel.«
»Sie gehört mir!«
»Ich weiß, aber lass mich mal sehen. Ich will nur sichergehen, dass du dich damit nicht verletzen kannst.«
»Nein! Meins!«, wiederholte er, das kleine Kinn angriffslustig vorgereckt, die Muschelschale fest
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