T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
doch im Grunde nicht mehr als sich erinnern, was in jener grauenvollen Nacht, in der sie ihren Sohn verloren hatte, tatsächlich geschehen war. Sich hypnotisieren zu lassen war der letzte Strohhalm gewesen, eine Verzweiflungsmaßnahme, doch selbst das hatte sie bislang nicht weitergebracht.
Vielleicht gibt es gar keine Erinnerungen. Vielleicht wirst du niemals Antworten auf deine Fragen finden.
Der Gedanke war beängstigend, und er ließ sie nicht los, als sie durch die engen Straßen eilte und die steilen Stufen zu den Piers hinunterstieg. Erstaunt stellte sie fest, dass Butch zurückgekehrt war. Er saß hinter dem Steuerrad der
Holy Terror,
überflog die Seiten eines abgegriffenen Taschenbuchs und rauchte eine Zigarette.
»Hatte ich nicht gesagt, ich würde mit Wyatt zurückfahren?«, fragte sie, als er sie über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg anstarrte.
»Doch, schon.« Er legte das Buch zur Seite und ließ den Motor an.
»Und warum bist du dann hier?«
»Weil du eine Schwindlerin bist, Ava, und das wissen wir beide.« Er warf ihr ein Lächeln zu, das ihn zehn Jahre jünger aussehen ließ, dann forderte er sie auf, ins Boot zu steigen. »Komm an Bord!«
»Du hättest nicht extra meinetwegen zurückkommen müssen.«
»Das bin ich ja auch gar nicht.«
»Und wer hat jetzt gelogen?«
Er schnaubte und drehte den Schirm seiner Baseballkappe nach hinten. »Hatte eh nichts zu tun. Die Fischerei läuft lausig.«
»So schlecht, dass du hier herumhängen und auf mich warten musst?«
»Wusste nicht, was ich Besseres anfangen sollte.«
Sie glaubte ihm keine Sekunde lang, trotzdem stieg sie ein und setzte sich auf einen der Plastiksitze.
Butch löste die Leinen, dann konzentrierte er sich darauf, die
Holy Terror
zwischen den anderen Booten hindurchzumanövrieren. So bemerkte er zunächst nicht, dass Ava die Augen geschlossen hatte und tief in Gedanken versunken war.
Erst als sie hörte, dass Butch den Motor drosselte, öffnete sie die Augen wieder und stellte fest, dass sie sich bereits dem kleinen Hafen von Monroe näherten.
Ava schlang die Arme um ihre Taille und spürte, wie ein eisiger Schauer sie durchlief, als Neptune’s Gate aus dem Nebel über der Bucht auftauchte. Nein, dieses Haus war kein Gefängnis, redete sie sich ein, sie war eine freie Frau. Doch während die
Holy Terror
über die Heckwelle eines Schnellboots hüpfte, das in die entgegengesetzte Richtung raste, wusste sie, dass sie sich etwas vormachte.
Einst war das Haus der einzige Ort auf der Welt gewesen, an dem sie sich sicher und geborgen gefühlt hatte. Sie hatte so hart dafür gearbeitet, es ganz allein zu besitzen … und fast wäre ihr das auch gelungen. Nur noch Jewel-Anne hielt ihren Anteil daran. Nur sie hatte sich von Avas großzügigem Angebot nicht beeindrucken lassen.
»Warum soll ich meinen Anteil verkaufen? Ich
liebe
es, Ava«, hatte sie gesagt und mit ihrem hübschen Kleinmädchengesicht und den ach-so-unschuldigen Augen zu ihrer Cousine aufgeblickt. Sie waren sich auf der Galerie begegnet, in der Nähe des Fahrstuhls. Ausnahmsweise einmal hatte Jewel-Anne keine ihrer albernen Kewpie-Puppen bei sich. »Das ist mit Geld nicht aufzuwiegen!«
»Du könntest bei Freunden wohnen, in der Stadt – in Seattle oder San Francisco, sogar in L.A. –, und wärst nicht länger auf dieser Insel gefangen.« Ava hatte ihrer Cousine fast das Doppelte dessen geboten, was ihr Anteil wert war.
Jewel-Anne hatte die perfekt geschwungenen Lippen zu einem trockenen Grinsen verzogen, in ihren Augen funkelte Überlegenheit.
»Wie ich schon sagte: Ich liebe es hier.« Sie hatte ihre Haare über die Schulter geworfen, den Rollstuhl gewendet und den Aufzugknopf gedrückt. Als dieser anhielt und mit einem Zischen seine Türen öffnete, hatte sie Ava einen letzten Blick zugeworfen. »Ich werde niemals hier weggehen, das schwöre ich dir. Neptune’s Gate ist mein Zuhause.«
Ihr Zuhause,
dachte Ava bitter, während ihr Blick zu Jewel-Annes Apartment schweifte. Von dem Eckzimmer im ersten Stock des Turms aus konnte man auf den Garten, die Bucht, das Festland und die offene See blicken. Hier hielt sich ihre Cousine am liebsten auf, denn von dort aus konnte sie die Stelle sehen, an der vor fast fünf Jahren der Unfall passiert war – »die Stelle, an der Kelvin ertrunken ist«, wie sie oft genug betonte. Ihr Lächeln bekam dann stets etwas Sehnsüchtiges, Trauriges, und immer lag eine unausgesprochene Anklage in ihren Augen.
Nur einmal hatte
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