T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
in der Hand.
»Natürlich gehört sie dir.« Sie kniete sich neben ihn und streckte die Hand aus. »Ich will doch nur sehen, ob du dir damit wehtun kannst!«
Doch er hörte nicht auf sie. Stattdessen wackelte er davon, weg von ihr, die Schale in der kleinen Faust. Zwischen seinen Fingerchen quoll Blut hervor.
»Noah, bitte –«
»Nein!«
Noch mehr Blut.
Sie lief hinter ihm her, doch er machte kehrt und rannte auf seinen kleinen, pummeligen Beinen zum Wasser.
»Noah!«, schrie sie panisch. »Bleib stehen!«
Sie stürzte ihm in vollem Lauf hinterher, ihre nackten Füße wirbelten den Sand auf, und dennoch kam sie nicht von der Stelle.
»Noah!« Ihre Stimme verlor sich im Wind, die Farbe des Ozeans wechselte von Aquamarin zu Schiefergrau, die friedliche Lagune verwandelte sich in eine finstere, tosende See. »Bleib stehen! Bitte, mein Kleiner, bleib stehen!« Entsetzt sah sie zu, wie er ins Wasser lief, die Wellen griffen nach ihm, Schaumkronen tanzten um ihn herum.
Keuchend jagte sie ihm nach, doch als sie ihren Arm nach ihm ausstreckte, drehte er sich um, die Augen angstgeweitet. Seine kleinen Füße rutschten von einem Sandschelf, und er verschwand im tiefen Wasser. »Noah!«, schrie sie verzweifelt. »Mein Kleiner –«
»… und Sie wachen wieder auf«, sagte eine Stimme aus der Ferne.
Ava schluchzte.
»Atmen Sie tief durch. Dann öffnen Sie die Augen und …«
Sie schlug die Augen auf und stellte fest, dass sie auf dem Ruhesessel in Cheryl Reynolds Hypnosepraxis lag. Ihr Herz raste, ihre Finger klammerten sich um die Sessellehne, ihr Kopf war voller schrecklicher Bilder. Aus ihrem Mund drangen leise Klagelaute.
»Sie werden jetzt ganz ruhig …«
Ava atmete langsam aus, die Anspannung wich aus ihrem Körper, und sie stellte erleichtert fest, dass der grauenhafte Traum vorbei war. Sie löste die Hand von der Lehne und ließ die Schultern sacken.
»O Gott«, flüsterte sie dann, sah zu Cheryl hinüber und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. O nein, sie wollte jetzt nicht weinen!
»Sie haben es noch einmal durchlebt.«
»Nein.« Ava schüttelte den Kopf, schniefte und wischte sich die Tränen fort. »Das ist es ja gerade: Ich habe den Eindruck, ich kann es nicht
noch einmal
durchleben, weil ich es
noch nie erlebt
habe.«
»Da sind Sie sich absolut sicher?«
»Natürlich!«
»Nun, da sind es Ihre Ängste, die sich einen Weg in Ihr Bewusstsein bahnen«, erklärte Cheryl, »doch was mir Sorgen bereitet, ist, dass sie bis zu Ihrem persönlichen Ruheort vordringen. Noch bevor Sie sich vollständig entspannen, bevor wir tiefer gehen können, dringen diese Visionen an die Oberfläche.«
»Ich weiß.« Das war ihre zweite Stunde, und in der ersten war etwas ganz Ähnliches passiert. Dennoch war Ava davon überzeugt, sich an noch viel mehr erinnern zu können, die Wahrheit herauszufinden, wenn es ihr nur gelänge, diese mentale Schranke zu durchbrechen, die sie offenbar selbst errichtet hatte.
»Hier.« Cheryl reichte ihr eine Tasse dampfenden Kräutertee, der nach Ingwer duftete. »Möchten Sie es noch einmal versuchen?«
Ava nippte an ihrem Tee und schüttelte den Kopf. »Ein andermal.« Sie nahm einen weiteren Schluck. Der Tee tat wirklich gut. »Haben Sie noch weitere Klienten mit diesem Problem?«
Cheryl lächelte. Die Tür zur Praxis öffnete sich einen Spaltbreit, und eine magere Schildpattkatze kam herein.
»Vor ein paar Jahren war einmal ein Mann mit einer Mentalblockade bei mir, doch wir konnten sie durchbrechen. Ich gehe davon aus, dass das bei Ihnen ebenfalls gelingen wird … Sie gehen stets genau bis zum Abgrund, und dann machen Sie einen Rückzieher.«
»Wie ist das möglich? Ich dachte, unter Hypnose würde man alles preisgeben –« Sie schauderte leicht.
»Jeder Mensch ist anders, Ava. Selbst die bereitwilligsten Partizipanten sind oftmals schwer zu erreichen. Wenn Sie möchten, werden wir es erneut versuchen.«
»Einverstanden.« Ava trank ihren Tee aus, dann rappelte sie sich aus dem bequemen Sessel hoch, bezahlte Cheryl und machte einen Termin für die kommende Woche aus.
Nachdenklich ging sie anschließend zurück zum Anleger und fragte sich, ob sie jemals aus diesem peinigenden Fegefeuer der Unwissenheit herausfinden würde. Der letzte Klinikaufenthalt hatte nicht mehr bewirkt, als dass sie nach außen hin ruhiger geworden war, und auch ihre regelmäßigen Therapiesitzungen bei Dr. McPherson verschafften ihr keine echte Erleichterung, dabei wollte sie
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