T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
wieder einen freien Kopf. Sie wühlte in ihrem Schrank, stieß auf den Laptop und setzte sich an ihren Schreibtisch mit Blick aus dem Fenster. Sie musste herausfinden, wo die anderen in der Nacht von Noahs Verschwinden gewesen waren. In der Vergangenheit hatte sie sich diese Frage schon oft genug gestellt, doch sie hatte nie die Kraft oder die Geistesgegenwart besessen, ihr nachzugehen.
Natürlich hatte die Polizei recherchiert, doch Sheriff Biggs und seine Helfer hatten sich nicht wirklich Mühe gegeben, dachte sie, da sie davon ausgegangen waren, dass sich Noah davongestohlen hatte und ertrunken war. Sie hatten flüchtig die Aussagen der anderen im Haus lebenden Personen aufgenommen, dann hatten Officer und Freiwillige die Insel durchkämmt, Taucher hatten im Wasser in der Nähe des Anlegers nach Noah gesucht. Als sie nichts fanden, kamen sie zu dem Schluss, dass Noah von der Pier gefallen und von der Ebbe ins offene Meer gezogen worden war.
Allerdings war Flut gewesen, als sie sein Verschwinden bemerkt hatte.
Das hatte sie überprüft.
Doch keiner hatte auf sie gehört, und sie konnte niemandem einen Vorwurf deswegen machen – sie hatte sich aufgeführt wie eine Irre: Außer sich vor Furcht und Verzweiflung hatte sie während der Suche nach ihm einen Nervenzusammenbruch erlitten.
Kein Wunder, dass niemand sie ernst nahm. In den zwei Jahren, die seither verstrichen waren, hatte sie nie die Hoffnung aufgegeben, dass ihr Kleiner wiederauftauchen könnte, doch ihre gebrochene Seele hatte nicht zugelassen, dass sie selbst aktiv wurde.
Bis jetzt. Sie blickte auf den Nachttisch und die kleine gläserne Tablettendose mit den Pillen, die Demetria vom Fußboden aufgehoben hatte.
Tranquilizer, die sie ruhigstellen sollten.
Antidepressiva, um ihre Stimmung zu heben.
Sie trug das Döschen ins Bad und spülte die Medikamente wieder einmal die Toilette hinunter, doch diesmal achtete sie darauf, dass sie wirklich fort waren. Sie vermutete, dass die heftigen Kopfschmerzen Entzugserscheinungen waren, doch das kümmerte sie nicht, darüber würde sie hinwegkommen.
Als sie sicher sein konnte, dass die Tabletten keine Spuren hinterlassen hatten, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, leerte zur Hälfte das Wasserglas, das Graciela ihr hingestellt hatte, und ließ die leere Pillendose auf dem Tisch stehen. Es würde ihr zwar ohnehin niemand glauben, doch sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, so zu tun, als ob. Nachdenklich band sie sich das Haar aus dem Gesicht, damit es ihr bei der Arbeit nicht in die Augen fiel.
Sie dachte an die Nacht, die ihr Leben für immer verändert hatte. Die Weihnachtsfeierlichkeiten waren in vollem Gange gewesen, das Haus voller Gäste und Angestellten. Ava fing an, eine Liste mit den Namen jener Menschen zu erstellen, die die Nacht in Neptune’s Gate verbracht hatten, und mit denen, die nur auf einen Sprung vorbeigekommen waren. Einen nach dem anderen notierte sie mit einem Bleistift, den sie in ihrer Schreibtischschublade gefunden hatte, auf einem Notizblock. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich jeden erfasst hatte, der damals da gewesen war, ihre Erinnerung war einfach zu lückenhaft. Trotzdem übertrug sie die Liste in eine eigens dafür angelegte Computerdatei.
Anfangs glitten ihre Finger noch unbeholfen über die Tastatur, machten Fehler, die korrigiert werden mussten, doch dann gewöhnten sie sich wieder ans Schreiben und drückten automatisch die richtigen Tasten. »Das ist genau wie Fahrradfahren«, redete sie sich ein, und tatsächlich hatte sie schon bald eine Tabelle angelegt mit Namen, Verbindungen und den Orten, an denen die jeweilige Person Noah zum letzten Mal gesehen hatte.
Ob diese Tabelle hilfreich war?
Das würde sie erst sagen können, wenn sie sich näher damit befasst hatte.
Drei Stunden später saß sie noch immer am Schreibtisch, rieb sich den verspannten Nacken und blickte auf ihre Angaben und den Zeitstrahl, den sie aus dem Gedächtnis erstellt hatte. Ihr Kopf hämmerte.
Ava sah das Haus vor sich, wie es an jenem Abend ausgesehen hatte …
Sie hatten mit Goldband und funkelnden Lichtern versehene Tannengirlanden im Foyer aufgehängt; ein sechs Meter hoher Christbaum stand am Fuß der Treppe, üppig geschmückt mit blinkenden Lämpchen, Weihnachtskugeln und roten Schleifen.
Überall im Haus klangen Weihnachtslieder aus den Lautsprechern, vertraute Melodien, die nur zu hören waren, wenn die Gespräche, das Gelächter und das Klirren von Gläsern
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