T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
für einen Augenblick abebbten.
Alle waren gehobener Stimmung gewesen, es hatte nur einen traurigen Moment gegeben, als sie beim festlichen Diner im Speisezimmer gesessen hatten und Ava auf den Platz zu ihrer Rechten blickte, an dem sonst immer ihr Bruder Kelvin saß. An jenem Abend hatte sich Clay Inman, ein Kollege ihres Mannes, ebenfalls Juniorpartner in der Kanzlei, auf Kelvins Stuhl niedergelassen. Wenn sie sich richtig erinnerte, lebte Inmans Familie irgendwo in North Carolina, und er wusste nicht, wo er sonst die Feiertage hätte verbringen sollen. Natürlich hatte er keine Ahnung, wessen Platz er eingenommen hatte, und auch niemand sonst, außer Ava oder vielleicht Jewel-Anne, deren Blick sie während des Essens aufgefangen hatte, schien es zu bemerken.
Gegen einundzwanzig Uhr war Noah quengelig geworden, und Ava hatte ihn nach oben gebracht, ihn sanft geschaukelt und anschließend in sein Gitterbettchen gelegt.
»Nein«, hatte er protestiert und mit seinem kleinen Finger auf das große Bett gezeigt, das erst in jener Woche geliefert worden war.
»Ich weiß nicht, Noah …«
»Großes Bett, Mommy!«
»Na gut«, hatte sie nachgegeben, ein Fehler, den sie bald bitter bereute. »Aber du wirst brav einschlafen.«
Sie hatte ihn zugedeckt und im Schaukelstuhl gewartet, bis er die Augen schloss und so tat, als würde er schlafen. Nach einer Weile blinzelte er verstohlen.
»Schlaf«, hatte sie mit fester Stimme wiederholt und sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt.
Zwanzig Minuten später war er endlich eingeschlafen. Ava stand auf, beugte sich über das große Bett und lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen. »Frohe Weihnachten, mein Großer«, wisperte sie, strich ihm die dunklen Locken aus der Stirn und drückte einen liebevollen Kuss darauf. »Bis morgen früh.«
Er lächelte im Schlaf, die Augen fest geschlossen, die langen, schwarzen Wimpern auf den Wangen. Sie erinnerte sich, dass sie an der Tür stehen geblieben war und einen Blick über die Schulter geworfen hatte, um sich ein letztes Mal zu vergewissern, dass er gut zugedeckt und sein Nachtlicht eingesteckt war.
Ihr Herz schmerzte, wenn sie an dieses letzte Bild von ihrem Sohn dachte. Abwesend griff sie nach dem Bleistift und rollte ihn nervös zwischen den Handflächen, während sie von Erinnerungen übermannt wurde.
Sie war in Eile gewesen.
Zufrieden darüber, dass Noah endlich schlief, war sie aus dem Kinderzimmer geschlüpft und hatte seine Tür einen Spaltbreit offen gelassen. Sie hatte den Rock des roten Kleides geglättet, das sie sich zu diesem Anlass gekauft hatte, und war die Treppe hinuntergeeilt, um sich wieder zu ihren Gästen zu gesellen. Sie erinnerte sich, dass sie noch einmal horchend auf dem Treppenabsatz stehen geblieben war, weil sie meinte, Noah habe nach ihr gerufen. Als alles still blieb, war sie sicher, sich getäuscht zu haben, und nach unten gegangen.
»Da bist du ja!«, hatte Wyatt gerufen. Er stand am Fuß der Treppe, ein Glas in der Hand, und lächelte sie an. »Wir haben Gäste!«
»Ich weiß, ich weiß. Ich habe nur schnell den Kleinen ins Bett gebracht.«
Sie eilte die restlichen Stufen hinunter, verabschiedete Inman und mehrere andere Gäste, die sich an der Haustür versammelt hatten und in ihre warmen Mäntel schlüpften, bevor sie aufs Festland übersetzten.
Dann kümmerte sie sich um die verbliebenen Gäste, machte Smalltalk und sorgte lächelnd dafür, dass alle genügend zu trinken hatten, dass die Kerzen brannten, dass die Musik nicht verstummte und sich alle amüsierten. Über eine Stunde sah niemand nach Noah. Sie hatte das Babyfon eingeschaltet, eine akustische Überwachungsanlage mit Lautsprechern in ihrem Schlafzimmer, im Arbeitszimmer und im Wohnzimmer. Es gab auch eine Videoüberwachung, doch die Kamera war noch auf das Gitterbettchen ausgerichtet, nicht auf das große Bett, in dem Noah jetzt schlief.
Beides hatte sich als nutzlos erwiesen. Das Babyfon war im Partylärm nicht zu hören gewesen, die Kamera mit ihrem begrenzten Aufnahmewinkel hatte keine Bilder geliefert, die ihnen Aufschluss über Noahs Verschwinden hätten geben können.
Seit jener Nacht waren Schuldgefühle ihre ständigen Begleiter.
Wie oft hatte sie sich gewünscht, sie wäre ins Zimmer ihres Sohnes zurückgekehrt?
Wie oft hatte sie sich bittere Vorwürfe gemacht, weil sie nicht zurückgeeilt war, als er sie gerufen hatte, als er sie dringend gebraucht hätte? Jene eine unüberlegte Entscheidung hatte dazu geführt,
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